An der Außenhaut der Masse

Bekämpfe die Macht: Die Love Parade fiel aus, doch die an ihrer Stelle stattfindende Demonstration war der beste Rave seit Jahren. Eindrücke von einem Techno-Wochenende zwischen Volkspark Friedrichshain, Siegessäule und Kurfürstendamm

„Den Weg des Ravers kann man nicht gehen, man kann ihn nur tanzen“

VON DETLEF KUHLBRODT

Die diesjährige Love Parade war sicherlich die beste seit Jahren. Das mag irritierend klingen, denn eigentlich fand sie gar nicht statt. Seit der Veranstaltung vor drei Jahren der Demonstrationsstatus entzogen wurde und die Veranstalter die Kosten für die Müllbeseitigung bezahlen mussten, stritten sie sich immer wieder mit den Behörden. In diesem Jahr konnte man sich dann nicht mehr einigen, die Parade wurde abgesagt. Stattdessen gab’s zwei Demos: Kultur-Attac und Gewerkschaften demonstrierten an der Siegessäule gegen die Tantiemenpolitik der großen Plattenfirmen. Am Ku’damm hatte das Szenemagazin partysan eine „Fight the power“ betitelte Demonstration für den Erhalt der Love Parade angemeldet. An der Demo beteiligten sich außerdem diverse Technoclubs- und DJs.

Wie soll man anfangen? Erwartungsfroh nervös ist man schon am Freitag, obgleich oder weil man schon bei so vielen Love-Parade-Wochenenden unterwegs war. So stellt man sich den hiesigen Jugendsender „Fritz“ an, der drei Tage lang Techno-DJ-Sets überträgt, und fährt nostalgisch mit dem Rad zum Volkspark Friedrichshain, staunt begeistert den Abenddämmerungshimmel über Berlin am Alexanderplatz an und steht dann plötzlich zwischen tausend dicht gedrängten Leuten. Die Außenhaut der Masse bilden Jugendliche, wohl aus Brandenburg, junge Männer um die zwanzig mit glasigen Augen. Manche wirken etwas rüpelig, sind aber trotzdem nett. Jemand trägt ein T-Shirt, auf dem steht: „Suck my dick“. Je näher man der Tanzfläche kommt, desto popkompatibler das Publikum. Die Stimmung ist gut. Es ist zwar laut, könnte aber noch lauter sein. Ab elf müssen die DJs aufhören wegen Auflagen des Umweltamts. Dann fährt man auch nach Hause und schaltet das „Love-Radio“ an. Chris Liebing spielt gerade die White Stripes, die im letzte Jahr ja ständig liefen. Die Moderatorin heißt Anke und sagt: „Mir geht’s super. Ich bin voll geflasht“.

Die Siegessäule am frühen Samstagnachmittag sieht sehr einsam aus. 500 Leute verlieren sich auf dem Platz, auf dem vor fünf Jahren 1,5 Millionen und letztes Jahr noch 600.000 tanzten. Es gibt drei Bühnen, eher ohne Techno. Viele Besucher sind über 40. Am Rande steht ein nett aussehender Drogenaktivist um die 50 mit einem Marihuanakranz im Haar. Er stellt Erhebungen in Sachen Drogenkonsum an. Christian Ströbele dreht mit seinem Mountainbike ein paar Runden. Auf einem Transparent steht „Musik den Konzernen? – Musik den Menschen!“ Das Anliegen der Demonstranten wird unter anderem von Udo Jürgens, Udo Lindenberg, Nicole, Heinz Rudolf Kunze und Herbert Grönemeyer unterstützt. So sieht das auch aus.

Als die Demo für den Erhalt der Love Parade am Ku’damm losziehen soll, regnet es wie bescheuert. Ein paar tausend Leute haben sich hinter und neben die sechs vergleichsweise kleinen Laster gestellt. Einige tragen polnische und tschechische Fahnen oder T-Shirts, auf denen „gangbang-crew“ steht. Aber eigentlich sehen die meisten normal sympathisch aus.

Auf den Wagen legen berühmte DJs auf, neben anderen Blake Baxter, einer der Detroiter Techno-Gründerväter, Westbam, Monika Kruse, Ellen Alien, Rush und der Love-Parade-Erfinder, Dr. Motte. Behördlich wurden die Veranstalter dazu gezwungen, die Hälfte ihrer Beschallung mit Reden zu gestalten, sonst sei das keine politische Demonstration. „Ich halte das für den größten Quatsch, von dem ich je gehört habe“, kommentierte Westbam in der Jungle World.

So schlimm ist es dann doch nicht. Der auf Techno spezialisierte Soziologieprofessor Ronald Hitzler sagt, hier eine Rede halten zu müssen, sei so ähnlich, als wenn man von der Bundesregierung verlangte, ihre Regierungserklärung vorzutanzen, der Techno-Verzicht auf Worte sei politisch. „Den Weg des Ravers kann man nicht gehen, man kann ihn nur tanzen.“ Der Staat solle die Clubkultur und die Love Parade fördern. Alexandra Dröhner vom „Tresor“ wirkt begeistert und sagt Ähnliches. Hans Cousto, Mitbegründer des szenenahen Drogenumgangsvereins eve & rave, redet gegen die Drogenpolitik, und Dr. Motte hält auch wieder eine schöne Rede: Die Parade solle ähnlich behandelt werden wie der CSD, „irgendetwas passiert hier gerade … Öffnet eure Herzen, befreit eure Gedanken … Frühling der Seele … der Tag wird kommen.“

Tatsächlich ist alles superschön. Das Publikum etwas älter, erfrischend heterogen und sehr enthusiastisch. Es ist sehr schön in dieser komischen Zeitschleife. Die Musik, um die sich die Love-Parade-Macher während der letzten Jahre nur noch bei der Abschlussveranstaltung kümmerten, ist wieder toll und gegenwärtig. Wo die Love Parade nur noch aus Mitläufern bestand, tanzen die Leute am Ku’damm wieder begeistert mit. Die 10.000 bis 30.000 Teilnehmer stellen eine Intensität her, die im Tiergarten verloren war. Statt im nächsten Jahr wieder eine große Love Parade zu machen, sollte man jedes Jahr für den Erhalt der Love Parade demonstrieren.

Nur ein wenig melancholisch erinnert man sich beim nächtlichen Pendeln zwischen verschiedenen Veranstaltungen daran, wie schön es doch war, als die ganze Stadt von Ravern für ein Wochenende verändert wurde.