: Schwarzes hinwütendes Wasser
Nachdem der chilenische Dichter Pablo Neruda 1936 seine erste Ehefrau verlassen hatte, negierte er fortan die Existenz seines einzigen Kindes, der im Alter von acht Jahren verstorbenen Malva Marina. Eine Spurensuche in Holland und im Werk Nerudas, der heute 100 Jahre alt geworden wäre
VON ISABEL LIPTHAY
„Ich habe sie gefunden! Gestern war ich nach Ende der Öffnungszeit auf dem Friedhof, sah mir die Gräber an, und dort war es, heruntergekommen und bedeckt mit Unkraut, die ärmste Malva. Ich ruf dich an wegen weiterer Einzelheiten“. Das schreibt mir Antonio Reynaldos, ein chilenischer Freund, der in Holland im Exil lebt, nachdem er es nach Monaten langwieriger Nachforschungen in Archiven und durch Interviews endlich gefunden hatte: das Grab von Malva Marina, der beklagenswerten, vergessenen Tochter des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda.
Antonio schickt mir dann Fotos auf meinen kleinen Bildschirm. Dort sieht man einen alten Grabstein, ungepflegt, mit kaum noch lesbaren Buchstaben und Unkraut, das an allen Ecken emporwuchert. Aufgewühlt steige ich eine Woche später in meinem Wohnort Münster in einen Zug nach Gouda, der wegen ihres Käses berühmten holländischen Stadt. Dort befindet sich das Grab dieses kleinen Mädchens, das Neruda bei Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges 1936 verließ und das dann von seiner Mutter aus noch ungeklärten Gründen in die Obhut einer Familie in Gouda gegeben wurde. Die Kleine, 1934 in Madrid geboren, litt an einem Wasserkopf und starb mit acht Jahren.
Auf dem Bahnhof in Münster bewacht eine Gruppe von Polizisten mit einem bedrohlichen Hund die Bahnsteige, während Fußballfans mit Fahnen und Bierdosen herumgrölen. Ich denke an María Antonieta Hagenaar Vogelzanz, eine Holländerin aus der damaligen Kolonie Java, Nerudas erste Ehefrau. Er heiratet sie 1930 in Batavia auf Java und beschreibt sie in seinen Memoiren „Ich bekenne, ich habe gelebt“ kurz als „eine hochgewachsene, sanfte Frau, die der Welt der Künste und Literatur völlig fern stand“. 1936 verlässt er sie zugunsten von Delia del Carril, einer argentinischen Malerin.
María Antonieta, von Neruda „Maruca“ genannt, ging fort mit der zweijährigen, kranken Malva Marina auf den Armen. Sie floh vor dem Verlassenwerden durch Neruda, floh vor dem spanischen Bürgerkrieg und kehrte nach Holland zurück – wahrscheinlich auch 1936.
Mein Zug fährt durch Gronau, der Wiege der verhassten chilenischen „Colonia Dignidad“, einem Folterzentrum der Pinochet-Diktatur. Wir kommen in Enschede an, der ersten Stadt auf der holländischen Seite. Ich steige um. Durch das Zugfenster sehe ich Fasane mit ihren Küken, neu geborene Lämmer, Schwäne, die zwischen den Kanälen brüten, viel junges Grün und Blumen, eine strahlende Sonne. Unter dem Eindruck dieses vielfältigen Lebens fahre ich zum Grab der kleinen Toten.
Nachdem Malva Marina und ihre Mutter das blutige Spanien verlassen hatten, begann für Neruda das Schweigen: Er negierte die Existenz Malva Marinas für den Rest seines Lebens. Das Mädchen trug nicht den Künstlernamen des Dichters, sondern den Namen Reyes, beruhend auf Nerudas Geburtsnamen Neftalí Reyes Basoalto. Immerhin finden sich einige Spuren des Mädchens in der zweiten Folge von Nerudas Gedichtband „Aufenthalt auf Erden“, in den Gedichten „Melancholie in den Familien“, „Mutterschaft“ und insbesondere „Krankheiten in meinem Hause“. Dort heißt es: „Steigt Mädchenblut in die vom Mond befleckten Blätter auf/ und ein Planet mit grässlichen Zähnen ist da,/ der das Wasser vergiftet/ in das die Kinder fallen,/ wenn Nacht ist und es nichts gibt als den Tod,/ nur den Tod und weiter nichts als Weinen.“ Kurz danach, in „Ode mit einer Klage“, schreibt Neruda: „O Mädchen unter den Rosen, du Drängen von Tauben,/ du Kerker von Fischen und Rosenstöcken,/ deine Seele ist eine Flasche voll durstigem Salz,/ und eine Glocke voll Trauben ist deine Haut“ […], „da ist das Wasser, das auf mein Haupt fällt,/ während mein Haar wächst,/ ein Wasser wie die Zeit, ein schwarzes hinwütendes Wasser …“
Federico García Lorca aber, der spanische Dichter, der gleich beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs ermordet wurde, schrieb sehr wohl und unverschlüsselt für und über Malva Marina: In den „Gedichten zur Geburt von Malva Marina Neruda“, die erst 1984 veröffentlicht wurden, kann man lesen: „Der weiße Elefant überlegt,/ ob er dir ein Schwert oder eine Rose geben solle;/ Java, Flammen von Stahl und grüne Hand,/ das chilenische Meer, Walzer und Kronen./ Kindchen aus Madrid, Malva Marina,/ ich will dir weder die Blume geben noch die Muschel;/ einen Strauß von Salz und Liebe, himmlisches Licht/ lege ich dir in Gedanken auf deinen Mund.“
Auch der chilenische Schriftsteller Luis Enrique Délano erinnert sich an sie, nachzulesen in der Neruda-Biografie des Schriftstellers und Politikers Volodia Teitelboim: „Ich erinnere mich an sie als ein blasses Mädchen, mit dunklen Haaren und Augen, so wie die Nerudas […]. Sie sprach nicht, sie schaute nur mit ihren großen und süßen Augen, wie erschrocken. Und sie sang!“
Wir wissen nur von einem Brief Nerudas an seinen Vater, in dem er Malva Marina erwähnt, veröffentlicht ebenfalls von Teitelboim: „Scheinbar ist das Mädchen vor der Zeit geboren worden, und es war schwierig, dass sie am Leben blieb. Das Mädchen ist sehr klein, wog nur 2 Kilo und 400 Gramm bei der Geburt, aber sie ist sehr hübsch, wie ein Püppchen. Natürlich ist der Kampf noch nicht vorbei, aber ich glaube, dass wir das Schlimmste schon hinter uns haben, und ab jetzt wird sie an Gewicht zunehmen und bald schön rund werden.“
Doch Malva Marina und Neruda werden sich bald nie wieder sehen. Neruda erlebt die erschütternden Tode von García Lorca, Miguel Hernández und anderen, organisiert antifaschistische Kongresse, schreibt den Gedichtzyklus „Spanien im Herzen“, der 1937 das erste Mal erscheint. Er kehrt nach Chile zurück mit der Malerin Delia del Carril, „La Hormiguita“ genannt, die kleine Ameise. Sein Vater stirbt 1938 im Süden Chiles, seine Mamadre, wie er seine Stiefmutter nennt, stirbt wenig später. Als der Sarg seines Vaters ausgehoben wird, um die Mamadre und den Vater zusammen zu beerdigen, hat man das Gefühl, Neruda gedenkt in den Worten an seinen Vater auch Malva Marina mit: „Die Feuchtigkeit des Südens hatte das Holz des Sarges gespalten und, beim Herablassen von seinem Platz – ohne dass ich glauben konnte, was ich sah – staunten wir über die große Menge Wasser, die aus ihm herausfloss, unendlich viel Wasser […]. Nun, dieses schreckliche Wasser, dieses Wasser, das ausgetreten war aus einem unmöglichen, unfühlbaren, seltsamen Versteck, […] erinnerte mich wieder mit seinem rätselhaften Auslaufen an meine endlose Verbindung mit einem bestimmten Leben, einer Region und einem Tod.“
Malva Marina, das Wasser in ihrem Kopf. Das Wasser aus dem Körper seines Vaters. Und die Jungfrauen in den Cenotes, den unterirdischen Brunnen Mexikos. Denn nachdem Neruda 1939 die Flucht von tausenden von Spaniern vor dem Franco-Regime mit dem Schiff „Winipeg“ von Frankreich nach Chile organisiert hat, bricht er nach Mexiko auf und wird hier chilenischer Generalkonsul. Malva Marina dagegen feiert ihren fünften Geburtstag in Gouda, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, weit weg von Vater und Mutter bei ihrer Adoptivfamilie, die aus dem Ehepaar Hendrik Julsing und Gerdina Sierks besteht sowie ihren Kinderm Heika, Geesje und Frederik. Ob einer von ihnen noch lebt, ist nicht bekannt.
1940 entdeckt Neruda die Magie Mexikos, während die Nazis Holland besetzen. Er besucht die Mayacenotes in Yucatán, wo Jungfrauen mit goldenen Ketten geopfert wurden. Auch hier scheint Malva Marina anwesend zu sein: „Aber ich, als ich diese Einsamkeiten betrat, suchte nicht das Gold, sondern den Schrei der ertrunkenen Mädchen. Es schien mir, als ob ich in dem seltsamen Krächzen der Vögel die dumpfe Agonie der Jungfrauen hörte; und in dem schnellen Flug, mit dem sie die Furcht einflößende Halle über dem uralten Wasser durchkreuzten, erahnte ich die gelben Hände der toten Mädchen.“
Vielleicht suchte Neruda Malva Marina, die Jungfrau, die im uralten Wasser seines Kopfes ertrunken war? Während Neruda Mexiko bereist, beginnt in Holland die Verfolgung der Juden. Und Malva Marina siecht in Gouda dahin. Am 2. März 1943 endet ihr kurzes Leben. Ihr Vater erhält die Nachricht in Mexiko. Öffentlich verliert er kein Wort darüber. Er erwähnt sie weder in seinen Memoiren, noch existiert irgendein Gedicht, das er seiner Exfrau María Antonieta gewidmet hätte. Jeder von uns trägt schmerzhafte und dunkle Zonen im Innersten. Es ist dies zweifellos die dunkelste Zone in Nerudas Innern.
Antonio wartet auf mich am Bahnhof in Gouda. Der Markt, eine für diese Landschaft unglaublich helle Sonne und ein Meer vom Menschen, das durch die alten Gässchen der Stadt strömt. Der Weg zum alten Friedhof ist abenteuerlich. Es gilt, Brücken zu überqueren, Windmühlen zu passieren, einen Kanal voller brütender Vögel, Schiffe, auf denen Menschen leben, eine riesige Fabrik voll von Metallrohren.
Antonio ist erleichtert: María Antonieta Hagenaar Vogelzanz hatte noch kurz vor ihrem Tod 1965 in Den Haag die Grabstelle für das Mädchen bis zum Jahr 2003 bezahlt. Zum Glück wurde vor kurzem der alte Friedhof zum Denkmal erklärt. Dann der Eingang zum alten Friedhof. Hinten die alten Metallrohre der Fabrik. Die Zeit ist hier stehen geblieben. Altes Grün, die Gräber von Unkraut überwuchert. Herr Spliep, der nette Friedhofswächter, begleitet uns zum Grab von Malva Marina, links vom Eingang. Nur die Grabsteine schauen aus dem hohen Unkraut hervor. Trotzdem: Malva Marinas Grab ist schön. So grau und verwittert wie die anderen, aber an Rändern verziert mit schönen weißen Kacheln. Auf dem Stein ist zu lesen, übersetzt aus dem Holländischen: „Hier ruht unsere liebe Malva Marina Rejes, geboren in Madrid am 18. August 1934, gestorben in Gouda 2. März 1943“.
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