: Wo fahren sie denn?
Verkehrsprobleme sind auch Siedlungsprobleme. Die Städte schrumpfen – die Wege werden länger
von ANNETTE JENSEN
Hamburg schrumpft auf die Größe von Wuppertal: Statt heute 1,7 Millionen Menschen leben dort nur noch 350.000 Menschen. Ganze Stadtteile verfallen, und neben dem Rathaus gibt es jetzt sogar eine Ponyweide. Schon lange fährt die U-Bahn nicht mehr nach Billstedt und Niendorf; dort wohnen ja nur noch ganz vereinzelt ein paar Menschen.
Ganz so extrem wird es wohl nicht kommen. Doch ohne Zuwanderung von außen wäre eine entsprechende Bevölkerungsentwicklung bis zum Ende des Jahrhunderts zu erwarten, hat Herwig Birg errechnet, Professor für Demografie in Bielefeld. Sicher ist, dass Deutschland immer leerer wird – in Größenordnungen von mehreren zehn Millionen, sobald die Generation des Babybooms im Westen und des Honecker-Buckels ab etwa 2025 nach und nach wegstirbt.
Die Verkehrspolitik kann diese Entwicklung nicht ignorieren – denn Straßen- und Schienenbau sind Entscheidungen mit langfristigen Folgen. Außerdem geht die Bevölkerung schon jetzt zurück. Die Erfahrungen, die Ostdeutschland bereits heute macht, stehen vielen Gemeinden im Westen ebenfalls bevor: Ganze Häuserzüge verfallen, und die Zahl ungenutzter Brachen wächst. Statt zugepflasterter Enge, wo jedes Stückchen Grün gegen neue Bebauung verteidigt werden muss, gibt es demnächst innerstädtischen Platz im Überfluss.
Kommunen haben im Prinzip zwei Möglichkeiten, die Entwicklung zu gestalten. Entweder zielen sie darauf ab, dass sich die Menschen im Zentrum sammeln und die Außenbezirke abgerissen werden – oder es entstehen große Freiflächen innerhalb der Stadt.
Während viele Stadträte den Bevölkerungsschwund zu kaschieren versuchen und verzweifelt Nachnutzungen für leere Gebäude suchen, geht Leipzig offensiv mit der Entwicklung um. Die Stadt hat sich dabei für das zweite Konzept entschieden. Nicht nur die Plattenbautensiedlungen werden ausgelichtet. Geplant ist ebenfalls, einige sanierungsbedürftige Gründerzeitviertel so umzugestalten, dass die Bewohner wieder ihre Radieschen hinterm Haus züchten können. Die Hoffnung dabei: Familien erfüllen sich ihren Traum vom Sweet Home in der Stadt und zersiedeln nicht immer weiter die Landschaft, wie es trotz Bevölkerungsschwund auch in Leipzigs Umgebung geschieht.
Verkehrspolitisch ist das Konzept sinnvoll. Denn je verstreuter die Bevölkerung im Umland lebt, desto schwieriger ist öffentlicher Verkehr zu organisieren. Die Folge: Trotz schrumpfender Bevölkerung nimmt die Automenge zu. Um sinnvolle Strukturentwicklungen zu unterstützen, gehören unbedingt zwei Punkte auf eine Verkehrsagenda 2010: Die Entfernungspauschale wird komplett gestrichen. Auch die Eigenheimzulage wird abgeschafft; für Neubauten auf der grünen Wiese sollte im Gegenteil sogar eine neue Abgabe eingeführt werden.
Viele Menschen fliehen ja gerade deshalb aus der Stadt, weil der Verkehr – nicht zuletzt durch die Pendler – stark zugenommen hat. Um diesen Trend umzudrehen, muss die Stadt wieder ruhiger, grüner und damit attraktiver werden. An mehreren Orten sind in den vergangenen Jahren Viertel unter dem Motto „autoarmes Wohnen“ entstanden. Dabei handelte es sich allerdings entweder um Neubauten oder um Quartiere, bei denen sich eine Projektgruppe mit genau diesem Anliegen zusammengefunden hatte.
Eine gerade veröffentlichte Studie des Umweltbundesamtes (UBA) belegt, dass eine solche Entwicklung auch in bereits existierenden, ganz normalen Vierteln organisierbar ist – und den dort lebenden Menschen ganz überwiegend gefällt. Noch vor ein paar Jahren gehörte das Gebiet rund um den Johannesplatz in Halle (Saale) fast ausschließlich dem Auto. Der Verkehr donnerte durch die Straßen, und der Weg zur Schule war gefährlich. Sogar zwischen den Bäumen der Grünanlage parkten Wagen, obwohl das eigentlich nicht zulässig war: 60 Prozent der Haushalte hatten schließlich ein Auto und wollten es irgendwo abstellen. In einem mehrjährigen Pilotprojekt schaffte das Wuppertal Institut im ständigen Dialog mit den Anwohnern einen deutlichen Wandel: Tempo 30 wurde eingeführt, Poller wurden aufgestellt und einige Straßenabschnitte ganz gesperrt. Zwar sind die Autos rund um den Johannesplatz nicht vollständig verschwunden, wie es das ursprüngliche Konzept vorsah. Aber sie dominieren nicht mehr das Bild. Stattdessen können die Kinder wieder auf der Straße und auf dem Platz spielen, und die neu errichtete Car-Sharing-Organisation wird stark genutzt.
Auch eine andere Untersuchung im Auftrag des UBA unterstützt Leipzigs Konzept, Schrumpfen als verkehrspolitische Chance zu begreifen und private Grünflächen zurück in die Stadt zu holen. Die Befragung von Kleingärtnern ergab, dass diese sehr viel Zeit auf ihrer Parzelle verbringen – und folglich währenddessen nicht anderweitig unterwegs sind. Ist die Laubenpiepersiedlung gut ins Stadtgebiet integriert, so kommen die meisten sogar zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus. Nur ein Viertel der Schrebergärtner benutzt für die Anreise das Auto. „Damit werden das hohe Verkehrsvermeidungspotenzial und die bislang oft unterschätzte Bedeutung von Kleingärten für eine umweltfreundliche Naherholung deutlich“, heißt es in der UBA-Studie. Sie empfiehlt deshalb, Kleingärten bei der Stadtplanung stärker zu berücksichtigen.
Doch klar ist auch: In einer von der Ausdehnung her gleich bleibenden, aber wesentlich weniger dicht besiedelten Stadt werden die alltäglichen Wege länger. Entwickelt werden müssen deshalb intelligente Verkehrssysteme, sollen die Busse nicht immer leerer und die Fahrscheine nicht immer teurer werden. Anrufsammeltaxis und Car-Sharing-Stationen neben der Bahnstation sind nur zwei Möglichkeiten, der Fixierung auf den Privat-Pkw verkehrspolitisch etwas entgegenzusetzen. Die Politik kann da durchaus aktiv eingreifen: Am Johannesplatz in Halle wurde erstmals öffentlicher Straßenraum für die Car-Sharing-Station zur Verfügung gestellt.