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Archiv-Artikel

Autonom in Frankreich

Jan Ullrich weiß, dass er demnächst Lance Armstrong angreifen muss, er weiß aber noch nicht, wo und wann. Auf seine Mannschaftskameraden wird er jedenfalls nicht groß bauen können

AUS LIMOGES SEBASTIAN MOLL

Jan Ullrich wirkte zerzaust, als er mit dem Tross der Tour am Samstag am Atlantik ankam. Der Frisör-Besuch war eine Woche überfällig, die Rasur mindestens ebenso lange. Wie seine 170 Kollegen schienen die ersten 1.200 Kilometer den Herausforderer von Lance Armstrong mitgenommen zu haben; diese Woche voller Wolkenbrüche, gefährlicher Kopfsteinpflaster, böiger Winde, Massenstürze und schier endloser Tagesstrecken kreuz und quer durch den französischen Norden.

Jan Ullrich hat sich ein etwas verwegenes Äußeres zugelegt, und das passt zu seinen Bemühungen, sein derzeitiges Innenleben zu kaschieren. Sowohl Gestik als auch Mimik sowie sein Tonfall sind gleichförmig, nichts lässt auf seinen Gemütszustand schließen. Darauf etwa, ob ihm der Rückstand von 55 Sekunden auf Lance Armstrong Sorgen macht: „Natürlich hätte ich gerne diesen Vorsprung. Aber die Tour fängt jetzt erst an“, verkündete er kommuniquehaft und: „Wichtig ist nur der Abstand in Paris.“ Ja, natürlich werde er angreifen, zurückschlagen. Einen Zeitpunkt für den Konter habe er sich aber noch nicht ausgedacht – und wenn doch, möchte er ihn nicht preisgeben. Er werde dann angreifen, wenn sein Körper das zulässt, beantwortet er die Frage so diplomatisch wie vage.

Ullrich ist derzeit ein Rätsel – für seine Fans, für seine Gegner, für die Experten und selbst für seine sportliche Leitung. „Der Deutsche fährt in der ersten Woche diskret und verbreitet dennoch Angst“, schrieb L’Equipe. „Ich könnte mir vorstellen, dass ihn der Rückstand auf Armstrong wurmt“, sagt sein sportlicher Leiter Mario Kummer über Ullrichs Seelenzustand. Ullrichs Mentor Rudy Pevenage weiß vermutlich mehr, Einblick gewähren möchte er aber ebenso wenig wie Ullrich selbst. Auf den Hinweis, dass Ullrich mit dem jetzigen Rückstand unter Zugzwang stehe, reagiert Pevenage, als wäre das für ihn ein gänzlich neuer Aspekt, über den er erst nachdenken müsse. „Das stimmt“, sagt er dann und blickt nachdenklich in eine unbestimmte Ferne, als liege irgendwo hinter den bretonischen Regenwolken das Rezept für Ullrichs zweiten Tour-Sieg versteckt.

Lance Armstrong hat auf die Pauke gehauen in der ersten Tour-Woche. Er nutzte sowohl den Prolog als auch das Mannschaftszeitfahren, um Stärke zu zeigen und seinen Führungsanspruch geltend zu machen. Auf den sturzgefährlichen Flachetappen fuhr er Tag für Tag von seiner Leibstandarte George Hincapie und Vjatcheslav Ekimov eskortiert an der Spitze des Feldes und ließ nur Fahrer passieren, wenn sie ihm weder leiblich noch sportlich gefährlich waren. Von Jan Ullrich hingegen war wenig zu sehen. Von dem vertrödelten Prolog und dem soliden, aber nicht eben energischen Mannschaftszeitfahren abgesehen, fuhr er stets auf Tuchfühlung mit Armstrong und nicht selten ohne seine Teamkameraden. Als auf der Samstagsetappe durch die Bretagne US Postal und CSC im Kanal-Wind das Feld auseinander rissen, war lange Zeit kein Matthias Kessler, kein Daniele Nardello und kein Giuseppe Guerini in Ullrichs Nähe. „Das hat keine Bedeutung“, sagt Ullrich. „Ich brauche auf diesen Flachetappen nicht viele Leute um mich.“

Während sich Lance Armstrong immer auf mindestens zwei Bodyguards verlässt, wurstelt sich Ullrich immer öfter alleine durch. Und wirkt dabei souverän: Anders als Armstrong blieb er etwa nicht im Massensturz von Angers hängen. Er war einfach Erik Zabel hinterhergefahren, dem einzigen Mann des Teams, der nicht dazu da ist, ihn zu unterstützen. Weniger gut geht es ihm hingegen, wenn sich Ullrich auf sein Team verlässt. Beim Prolog war er ohne Funk gefahren, weil Walter Godefroot der Meinung war, dass man auf einer kurzen Distanz nicht kommunizieren müsse. Im Nachhinein musste Godefroot jedoch einräumen, dass man den Zeitverlust hätte begrenzen können – wenn Ullrich zwischendurch gewusst hätte, wie weit er zurückliegt. Beim Teamzeitfahren entschied sich Telekom aus Angst vor Stürzen als einzige Mannschaft dazu, mit Speichen- anstatt mit den aerodynamischeren Scheibenrädern anzutreten. Sicherlich hätte es auch mit den Scheiben nicht zum Sieg gereicht. Die selbstzufriedene Aussage Godefroots, man habe bis hin zu Windkanal-Tests alles Mögliche für den Sieg getan, relativiert sich indes, wenn der teuer im Audi-Forschungszentrum optimierte Windschlupf so leichtfertig wieder preisgegeben wird.

Jan Ullrich hat in dem Jahr seiner Verbannung von T-Mobile gelernt, alleine zurechtzukommen, bei der zusammengewürfelten Bianchi-Truppe im vergangenen Jahr hatte er nur sporadisch Unterstützung. In der ersten Woche dieser Tour hat er bewiesen, dass er die im Exil gewonnene Autonomie bei der Rückkehr nicht gänzlich wieder verloren hat. Und in den Bergen fährt am entscheidenden Anstieg ohnehin jeder alleine. Dann wird man sehen, was unter Ullrichs Wuschelfrisur und seinem Fünftagebart steckt.