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Archiv-Artikel

Abschiebung in unbekannte Heimat

Wegen Ungenauigkeiten bei der Angabe von Personaldaten soll eine sechsköpfige Familie zurück nach Armenien. Von da aus floh sie vor zehn Jahren. Mittlerweile sind die vier Kinder in Schwerin voll integriert – und sprechen kein Wort armenisch

JESIDEN IM NORDEN

Weltweit gibt es etwa 800.000 Jesiden. Die alternative Schreibweise ist Yeziden. Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, die unter anderem die Heirat mit Andersgläubigen untersagt. Zudem glauben Jesiden an die Wiedergeburt. Ursprünglich lebten die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft in kurdischen Gebieten, also in Teilen des Iraks, Irans, der Türkei und Syriens. Aus Angst vor einer Verfolgung durch Andersgläubige siedelten sich die Jesiden während der Zeit des Ersten Weltkriegs zunehmend in Armenien und Georgien an. Weil die Muttersprache der Jesiden das nordkurdische Kurmandschi ist und sie oft nicht die Landessprache sprechen, sind sie deutlich als Minderheit erkennbar. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wanderten viele Jesiden nach Mittel- und Westeuropa aus. In Deutschland leben etwa 60.000 Jesiden. Zu den größten Gemeinden Norddeutschland zählen diejenigen in Celle, Hannover und Oldenburg. UG

VON UTA GENSICHEN

Einer sechsköpfigen Familie aus Armenien droht die Abschiebung durch die Ausländerbehörde in Schwerin. Seitdem die kurdische Familie R. vor zehn Jahren nach Mecklenburg-Vorpommern geflüchtet war, lebte sie in mehreren Flüchtlingsheimen. Erst im Jahr 2006 bezogen die vier Kinder und ihre Eltern eine Wohnung in der Landeshauptstadt.

Bis zum Dezember 2008 gehörten sie zu den etwa 1.100 in Schwerin lebenden Menschen mit einer Aufenthaltsgenehmigung. Diese wird nur für drei Monate ausgestellt. „Die Eltern hatten nicht einmal einen Deutschkurs. Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt Arbeit gefunden haben“, sagt Doreen Klamann vom Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern.

Seitdem die Stadt sich jedoch dafür entschieden hat, die Familie abzuschieben, lebt sie unter dem Status der Duldung. In der bundesweiten Praxis beträgt dieser Zeitraum mindestens fünf Wochen. In Schwerin jedoch muss Familie R. wöchentlich hoffen, nicht abgeschoben zu werden. „Man will Druck auf die Familie ausüben“, sagt Klamann. Die Mutter habe bereits ihre Stelle als Putzfrau verloren. „Mit so etwas wollen Chefs natürlich nichts zu tun haben“, sagt sie. Für die 17 Jahre alte Tochter K. ist diese Situation unerträglich. „Natürlich habe ich Angst“, sagt sie. Die Stimmung zu Hause sei seit Dezember gedrückt. Ihre Eltern sind gestresst, der Vater sei sogar krank, klage ständig über Kopfschmerzen.

In Armenien kenne die Schülerin niemanden. Nicht einmal erinnern könne sie sich an das Land, aus dem sie mit sieben Jahren floh. Ihre Eltern gehören der kurdischen Minderheit der Jesiden an. Ob diese Volksgruppe in Armenien noch immer Übergriffe zu befürchten habe, darüber gingen die Meinungen auseinander, sagt Klamann vom Flüchtlingsrat. So gebe es laut Auswärtigem Amt dort keine Verfolgungen von Jesiden mehr. Der Oldenburger Verein Jesisches Forum behauptet hingegen, dass es dort in der Vergangenheit sehr wohl zu Überfällen auf Jesiden gekommen sei.

Dem Flüchtlingsrat zufolge begründet die Stadt die Abschiebung damit, dass der Asylantrag der Familie R. rechtskräftig abgelehnt worden sei. Der Grund dafür sei eine angebliche Identitätsfälschung in der Vergangenheit. Es habe anscheinend Ungenauigkeiten bei der Angabe von Namen und Geburtsdaten gegeben. Doreen Klamann kann diese Begründung nicht verstehen. Der Behörde lägen seit Jahren die kompletten Personenangaben vor, sagt sie. Das Wohl der vier Kinder, glaubt sie, scheine bei der Abschiebung keine Rolle zu spielen. Die zwischen zehn und 18 Jahre alten Jungen und Mädchen seien voll integriert.

„Meine beste Freundin kann es noch gar nicht glauben, dass wir abgeschoben werden sollen“, sagt K., die älteste Tochter. Ihre jüngeren Geschwister, glaubt sie, verstünden nicht, was mit Abschiebung gemeint ist. „Sie glauben, dass es danach wieder zurück nach Deutschland geht.“ Eigentlich müsste K. damit beschäftigt sein, nach einem berufsvorbereitenden Praktikum zu suchen. „Aber das brauche ich ja jetzt nicht mehr.“ Dürfte ihre Familie in Schwerin bleiben, würde sie gerne Krankenschwester werden.

Die Schulausbildung in Armenien fortzusetzen sei sehr schwer, sagt der Flüchtlingsrat. Weder gebe es Eingliederungshilfen für Rückkehrer, noch spreche die Familie die armenische Landessprache (siehe Kasten). Auch für die Zukunft der Eltern sehe es düster aus. Die Arbeitslosenquote ist hoch und wer Arbeit hat, ist oft unterbezahlt. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung leben nach Angaben des Auswärtigen Amtes zudem unter der Armutsgrenze. Der Flüchtlingsrat hofft indes auf ein Umschwenken der Ausländerbehörde. „Die Familie R. muss die Möglichkeit bekommen, in Deutschland zu bleiben“, sagt Klamann. Das sei die einzige humane Lösung.

In Schwerin leben derzeit etwa 84 Menschen mit dem Aufenthaltstitel Duldung. Ein Großteil der Betroffenen stammt aus dem Irak, etwa 19 sind aus Armenien geflohen. Die alle drei Monate zu beantragende Aufenthaltserlaubnis besitzen rund 1.100 Menschen.

Sollte die Stadt ihre Drohung wahr machen und die Familie R. abschieben, hätte sie damit bereits im Februar die Zahl der im Jahr 2008 Abgeschobenen übertroffen. Damals wurden vier „illegal aufhältige Personen“ sowie ein Asylbewerber dazu verpflichtet, auszureisen. 2007 verwehrte Schwerin sechs Menschen das Asyl, zwei weitere wurden wegen illegalen Aufenthalts abgeschoben.