: Der Sommer mit Al
Nuscheln wie daheim auf dem Sofa: Wer Freunde hat, kommt leichter voran im amerikanischen Independent-Kino. „The Exploding Girl“, „Marin Blue“, „Beeswax“ und „Sweetgrass“ im Forum
VON DIETMAR KAMMERER
Gedächtnisverluste, Schlafanfälle, Rollstühle: Im unabhängigen US-amerikanischen Kino, wie es das Internationale Forum des Jungen Films in diesem Jahr präsentiert, sind die Figuren trotz oder wegen ihrer körperlicher Einschränkungen immer auf der Suche: nach sich, nach Gerechtigkeit, nach der wahren Liebe. Wer Freunde hat, kommt dabei leichter voran.
Die Studentin Ivy (Zoe Kazan) erlebt einen Sommer im Haus ihrer Mutter. Mit ihr ist Al (Mark Rendall), ihr Schulfreund aus Kindertagen. Er kommt über die Semesterferien bei Ivy und ihrer Mutter unter. Zusammen ausgehen, rumhängen, durch den Park spazieren, Karten spielen, so verbringen die beiden diese Sommerwochen.
Ein Wunder gelingt
Ivy ist mit Greg zusammen oder glaubt das zumindest. Der ist nur durchs Telefon präsent und irgendwann nicht einmal mehr das. Als die Trennung ausgesprochen wird, erzählt Ivy niemandem davon. Als Epileptikerin musste sie sich angewöhnen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, um Stress zu vermeiden. Dass Al der sein könnte, der am besten in ihr Leben passt, begreift sie erst allmählich.
Mit „The Exploding Girl“ gelingt Regisseur Bradley Rust Gray das gar nicht so kleine Wunder, die altbekannte Geschichte „girl meets boy“ so zu erzählen, als würde man sie zum ersten Mal erleben. Einfühlsam lotet er die Übergange zwischen Freundschaft und Liebe aus, unaufdringlich fängt die Kamera Gesten, Blicke, Bewegungen ein von Figuren, die ganz bei sich sein dürfen. Ein schwereloser Film.
„I have this condition“, sagt eine junge Frau, nachdem sie sich wieder aufgerichtet und den Schlaf aus ihren Augen gerieben hat. „Ich habe diese Krankheit“, übersetzen die Untertitel inhaltlich zutreffend und doch unzulänglich. Denn in „Marin Blue“ von Matthew Hysell ist ein medizinisches Symptom immer auch existenzielle condition humaine.
Wie Schlafwandler bewegen sich die Figuren durch ein Los Angeles, das gänzlich aus aufgegebenen Räumen zu bestehen scheint, aus betongrauen Parkplätzen und verlassenen Coffee Shops, aus dem Niemandsland der Hochwasserkanäle und der spukhaften Leere unbewohnter Häuser. Und so, wie die Stadt ohne Spuren der Vergangenheit ist, bleiben ihre Bewohner ohne Erinnerung. Marin Blue (Najarra Townsend), die unter narkoleptischen Attacken leidet, begegnet in einer psychiatrischen Klinik Jim (Cory Knauf), der sein Gedächtnis verloren hat. Er klettert über den Anstaltszaun, sie macht sich auf die Suche nach ihm. Obwohl viel von Flucht und vom Freiheitsversprechen der Highways die Rede ist, verstricken sich die Figuren in einem selbst gewählten Labyrinth, das vermutlich an David Lynch erinnern soll, aber zu oft nach angestrengter Kunsthochschule aussieht.
Der 32-jährige Andrew Bujalski gilt als bekanntester Vertreter einer Gruppe von Ultra-Low-Budget-Filmemachern in den USA, die seit einigen Jahren Filme realisieren, indem sie Freunde und Bekannte vor die Kamera bitten und entlang locker vorgegebenen Narrationen Dialoge improvisieren lassen. Meist geht es um die gegenwärtige Lage von Twenty-Somethings, die sich zwischen Künstlerdasein, Selbstverwirklichung, Universitätsjobs und Beziehungsarbeit damit abfinden müssen, irgendwann erwachsen zu werden. Weil in den Filmen viel genuschelt wird, hat sich der Ausdruck „mumblecore“ als Bezeichnung etabliert; andere reden respektvoll-ironisch von „Slackavetes“.
Wer mit wem und warum
Wie schon in Bujalskis vorigen Filmen „Funny Ha Ha“ und „Mutual Appreciation“ sind die Protagonisten von „Beeswax“ die meiste Zeit damit beschäftigt, Gespräche darüber zu führen, welchen Status dieses Gespräch eigentlich gerade hat. Wer mit wem unter welchen Bedingungen eine Beziehung oder Partnerschaft eingeht oder abbricht – ob emotional, geschäftlich, familiär, juristisch –, ist die Frage, die alle Beteiligten umtreibt. Um im Bild des Titels zu bleiben: Jeder kann sich entscheiden, wie er sein Bienenwachs einsetzt – sich gemütlich in seiner Wabe einrichten oder eine Kerze anzünden, um die andere sich versammeln. Bei Bujalski vergisst man bald, dass man im Kino ist und nicht bei Freunden zu Hause auf dem Sofa herumlümmelt. Übrigens sitzt eine der Hauptfiguren in einem Rollstuhl.
Aus dem Muster der drei Spielfilme heraus fällt der US-Dokumentarfilm „Sweetgrass“ von Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor. Er berichtet, wortlos meist, von den Lebensumständen der letzten Schafhirten im amerikanischen Westen, die im Sommer gewaltige Herden durch unwegsames Gelände und über Bergketten treiben. Wie Mensch, Tier, Landschaft und Klima dabei zusammenkommen, packt „Sweetgrass“ geduldig in eindrucksvolle Panoramen.