: Chronik einer Eskalation
Pikant: Ein zeitungswissenschaftliches Institut lässt eine Zeitschrift seiner Studenten verbieten und droht mit Strafverfolgung. Die revolutionären Studenten des Wintersemesters 1968/69 proben den Aufstand und „befreien“ das Münchner Institut. Erinnerungen eines Ersttäters
von HANS PFITZINGER
Es war idiotisch, zu glauben, die bürgerliche Presse könne ein Mittel sein, um durch Aufklärung Voraussetzungen für eine revolutionäre Veränderung der Verhältnisse zu schaffen. Die bürgerliche Presse ist ein Instrument der herrschenden Klasse! („otto caput Nr. 1, kampfschrift der basisgruppe zw“)
Amerikahaus nach 13 Stunden befreit (Bild-Schlagzeile, 13. Februar 1969)
Das Ende der Aktion kam für mich am Morgen des 12. Februar 1969. Gegen sechs Uhr wurde ich in die nassen Schneeschauer von München entlassen. „Entlassen“, richtig, nach drei Stunden im Polizeigefängnis an der Ettstraße. Ich hatte Glück gehabt – fester Wohnsitz, Ersttäter, keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, denn das Delikt war klar: Hausfriedensbruch.
Ich trat durch die große Toreinfahrt des Polizeipräsidiums, knöpfte meine Jacke zu und stemmte mich gegen das Sauwetter. Es passte, haargenau. Nach all den Kollektivaktionen, nach dem Zirkus in der Zelle, stand ich so allein vor den Scherben der Studentenrevolte, wie man nur allein stehen kann.
Während ich durch den Schneematsch hinüber zum Karolinenplatz stapfte, um den senfgrünen Fiat 500 abzuholen, den ich damals fuhr, gingen mir die letzten Tage und Stunden durch den Kopf – die Zuspitzung der Lage kurz vor dem Prüfungstermin, die Auseinandersetzungen mit den Institutsassistenten – Peter Glotz profilierungssüchtig an der Spitze –, und die „Genossen“, die unvermittelt gestern Morgen aufgetaucht waren, als klar wurde, dass die Vollversammlung sich für unbefristete Besetzung aussprechen würde. Plötzlich waren sie da, verteilten Matratzen im Seminarraum, installierten einen Plattenspieler und ließen die Rolling Stones „Sympathy for the Devil“ dröhnen – „wir müssen die neue Gesellschaft schon im Kampf gegen die alte vorwegnehmen“ – und zur neuen Gesellschaft gehörten die Stones, keine Frage.
Wie es sich für ein zeitungswissenschaftliches Institut gehört, hatte die Revolution mit einer Zeitung angefangen. Genau genommen war es eine Zeitschrift, eine Nullnummer, ein Versuchsballon. Sie trug den programmatischen Titel otto caput Nr. 0, und ihre Verbreitung wurde unmittelbar nach Erscheinen per einstweilige Verfügung des Landgerichts München verboten. Das Verbot hatte der Rektor des Instituts, Prof. Dr. Otto „Kaputt“ Roegele, beantragt; „Antragsgegner“ waren zehn namentlich genannte Studenten der Zeitungswissenschaft, die ziemlich willkürlich aus dem harten Kern der Studentenvertretung, Fachschaft genannt, ausgewählt worden waren. Zwei der Namen tauchten später auf den Fahndungsplakaten auf, mit denen nach Mitgliedern der RAF gesucht wurde.
Den zehn wurde bei Meidung einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder Haftstrafe bis zu sechs Monaten verboten, „eine Neuauflage der hektografierten Zeitschrift otto caput Nr. 0 herzustellen“. Außerdem wurde den Studenten verboten, „den Namen des Antragstellers oder des Instituts für Zeitungswissenschaften sowie die Namen seiner Assistenten im Zusammenhang mit pornografischen schriftlichen Äußerungen oder Darstellungen sowie anderen beleidigenden Äußerungen über die Tätigkeit des Antragstellers in Bezug auf sein Lehramt in der Öffentlichkeit sowie über seine private Sphäre zu nennen und diese Äußerungen zu verbreiten“. Puh!
Der Streitwert wurde auf zehntausend Mark festgelegt. Die Entscheidung trägt das Datum des 26. November 1968. Das Landgericht gab den Studenten das Signal zum Aufbruch: Die Freiheit der Presse war bedroht von der kapitalistischen Staatsmacht. Die Vertreter der etablierten Herrschaft am Institut waren Professor Roegele und seine Assistenten (siehe Randspalte).
Einige Studenten waren just an jenem 26. November 1968 dabei, graue Theorie in bunte Praxis umzusetzen, als das Gericht seine einstweilige Verfügung gegen otto caput Nr. 0 verkündete. Vom Richterspruch wussten die Studenten noch nichts, als sie – Mao Tse-tung ließ grüßen – Wandzeitungen auf dem Flur des zweiten Stocks im Münchner Amerikahaus anbrachten, wo das Institut für Zeitungswissenschaft zur Miete residierte. (Zu jener Zeit kam es vielen Leuten so vor, als ob die ganze Bundesrepublik bei den Amerikanern zur Miete wohnte.)
Jedes Stockwerk im Amerikahaus hat im Boden des Flurs ein großes rundes Loch, vielleicht acht Meter im Durchmesser, drum herum ein Geländer aus dünnen Stahlstreben. So hat man einen guten Blick auf die Eingangshalle im Erdgeschoss. Von dort unten konnte man auch teilweise sehen, was auf dem Flur im zweiten Stock passierte. In einem otto kaputt Extrablatt (die Schreibweise des eigenen Presseprodukts sah man ganz undogmatisch) lasen sich die Ereignisse des frühen Nachmittags so: „Auf der letzten Vollversammlung trat Herr Langenbucher unter anderem mit seinen Angriffen auf das ungenügende Informationsangebot der Fachschaftsvertretung hervor. So entschlossen sich einige ZWler spontan zu einer Aktion, die 1. verschiedene Problematiken aufzeigen soll, 2. das Informationsniveau angleichen und 3. Spaß machen soll. Man traf sich also am 26. 11. mittags im Institut, war frohen Mutes und fertigte einige Wandzeitungen an. Auf der ersten, der allgemein begründenden, stand zu lesen: ‚Schafft die permanente Diskussion! Diese Wandzeitungsaktion soll einen ersten Versuch darstellen, die autoritär strukturierte Kommunikation am Institut zu durchbrechen.‘ “ Ein Fremdwort folgte dem nächsten, Substantive wurden eingesetzt wie Maschinengewehrsalven.
Man schrieb fleißig DIN-A2-Plakate aus Packpapier voll, und nach drei Stunden prangte die ganze hintere Wand im Schmuck selbst hergestellter Wandzeitungen. Vorbildlich, diese Studenten, die roten Garden hätte ihre helle Freude gehabt. Auch die Erstsemester, die um 15 Uhr zum Seminar des Herrn Langenbucher kamen, amüsierten sich köstlich. Jener hatte aber zusammen mit dem zweiten Assi, Herrn Peter Glotz, beschlossen, dem Treiben ein Ende zu setzen. Sie holten sich Rückendeckung beim Hausherrn, dem Vermieter – der US-Regierung, vertreten durch Mr. Christoph Peters, den Direktor des Amerikahauses.
otto kaputt Extrablatt: „Gegen 15 Uhr 25, als das Langenbucher-Seminar immer noch nicht begonnen hatte, gab Glotz eine offizielle Erklärung ab, die inhaltlich folgendermaßen lautete: Die Direktion des Amerikahauses habe an den Wandzeitungen Anstoß genommen und erklärt, dass diese Aktion den Mietvertrag verletzt, und droht mit Kündigung, falls nicht sofort der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werde.“
Natürlich glaubte Glotz niemand, weshalb eine Delegation zu Direktor Peters geschickt wurde. Der bestätigte die Glotz-Erklärung. Hah, das ist eine Meldung für die Presse! Jemand rief bei der Abendzeitung an und verkündete anschließend, die würden gleich zwei Journalisten vorbeischicken. Auch der Lokalreporter Christian Ude von der Süddeutschen Zeitung habe sein Interesse geäußert.
Angesichts der möglichen Publizität des Konflikts waren sich Glotz und Peters nicht mehr so sicher. Kurz darauf gab Glotz den Versammelten bekannt, dass Peters nach Rücksprache mit dem Generalkonsul keine Bedenken mehr gegen die Aktion habe, und unter diesen Umständen habe er, Glotz, auch nichts mehr dagegen.
Zu spät. Die Eskalation war nicht mehr aufzuhalten. Auf einem Flugblatt wurde zur täglichen Vollversammlung um 13 Uhr aufgerufen. Da sollte über drei Fragen diskutiert werden: „1. Ist es möglich, dass ein Universitätsinstitut in seinem Inhalt bestimmt wird durch eine außeruniversitäre Institution wie das Amerikahaus? 2. Was für ein Wissenschaftsverständnis haben wissenschaftliche Assistenten, die das widerstandslos hinnehmen? Sollten sie es gar aus Mietverträgen ableiten? 3. Was birgt dieser Mietvertrag sonst noch für Überraschungen? Hat Peters das nächste Semesterprogramm bereits genehmigt? Wir fordern die Veröffentlichung des Mietvertrages!“ Das Impressum dieses Flugblatts lautete: „Eigendruck des Instituts für Beschäftigungstherapie, München, Karolinenplatz im Amerikahaus“.
Es wurde also beschlossen, den Lehrbetrieb am Institut selbst in die Hand zu nehmen. Das bedeutete, dass in allen Vorlesungen und Seminaren plötzlich eine Hand voll Studenten eine Diskussion über Themen wie „Wissenschaftsverständnis und Machtfrage am Institut“ forderten und durchsetzten.
Der vorläufige Höhepunkt war die „Sprengung“ der Hauptvorlesung: Wolf Schimmang, der Fachschaftssprecher, stand am Rednerpult, der Professor musste sich erst mal in die erste Reihe setzen, wo sein Gastredner und die Assistenten Platz genommen hatten, und stillschweigen. Wolf redete klug und wohl formuliert wie immer, dann meldeten sich die Horrorzwillinge, die eine Resolution verlasen, in der sie Roegele als Schande für die Münchner Universität bezeichneten, falls er nicht bereit sei, über sein Wissenschaftsverständnis zu diskutieren. Dann redete Ho-Chi (eigentlich Horst-Dieter) Koch, ein glänzender Rhetoriker, der Ho-Chi genannt wurde, weil er einen Bart wie Ho Chi Minh hatte, nur dichter. Heute ist er Geschäftsführer des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen. Dann redeten andere, die Vorlesung ging munter weiter, die Zeit verstrich wie im Fluge.
Roegele riss endlich der Geduldsfaden und forderte die Diskussionsteilnehmer zum Verlassen des Hörsaals auf. Das tat er dreimal, und als er keine Wirkung erzielte, ging er selbst. Am nächsten Tag, dem 16. Januar 1969, sagte er alle weiteren Vorlesungen für den Rest des Semesters ab.
Ja, die Dinge waren in Gang gekommen. Und nicht vergessen wurde Punkt drei der Begründung für die Wandzeitungsaktion: Es sollte Spaß machen. Die Besetzung des Instituts, nicht einmal vier Wochen später, folgte nach dem Beschluss der Erstsemester, ihre Seminarprüfung zu boykottieren. Es ging darum, sich der „Leistungsideologie“ zu verweigern. Und Klausuren schreiben, bei denen Typen wie Wagner und Langenbucher bestimmen sollten, was gefragt und wie es bewertet wird, das machte entschieden keinen Spaß.
Ich wusste nach dem Proseminar noch immer nicht, was „kognitive Dissonanz“ war, und wenn irgendeine Prüfung platzte, sollte mir das schon recht sein. Viel vergnüglicher war es doch, stattdessen mit den beiden Assistenten über Sinn und Unsinn wissenschaftlicher Prüfungen zu diskutieren. Darüber wurde abgestimmt: Dafür stimmten 69 Studenten aus den beiden Proseminaren, dagegen elf. Zum ersten Termin bei Wagner am Freitag, dem 7. Februar, 9 Uhr, kamen außer den Prüflingen noch gut hundert andere Studenten, einige von der noch ziemlich neuen Hochschule für Film und Fernsehen, die damals auch von Roegele geleitet wurde. Jeder Seminarteilnehmer füllte einen Prüfungsschein aus mit der Note „befriedigend“. „Die Scheine werden eingesammelt“, so ein zeitgenössisches Flugblatt, „und den Assistenten mit der Auflage überreicht, sie bis 11. Februar, 10 Uhr, unterschrieben und gestempelt zurückzugeben.“ Natürlich weigerten sich die beiden Assistenten, Wagner und Langenbucher, am angesetzten Stichtag die Prüfungsscheine zu unterschreiben.
Den Beginn der Besetzung beschreibt otto caput Nr. 1 – Kampfschrift der Basisgruppe ZW: „Nach einer weiteren Diskussion mit der Institutsleitung, deren formale und irrationale Argumentation noch einmal bloßgelegt wurde, beschlossen die Studenten die Befreiung des Instituts. Wir benannten das Institut in ‚Bahman-Nirumand-Institut‘ um und erklärten es zum ersten befreiten Institut der Universität München.“
Wer hinter dem Namen Nirumand steckte, wussten auch damals nur wenige, weshalb erklärt wurde: „Der Publizist und Schriftsteller Bahman Nirumand soll aus der BRD ausgewiesen werden; in seinem Heimatland Persien erwartet ihn wegen seiner politischen Betätigung die Todesstrafe. Somit war die Umbenennung des Instituts ein Symbol der Solidarität der studentischen Opposition mit den Gegnern des Schah-Regimes, das, durch US-Militärhilfe und CIA gestärkt, seine faschistische Terrorpolitik betreibt, unterstützt auch durch unseren Staatsapparat.“
Der Ort der Revolte, im zweiten Stock des Amerikahauses, hätte gar nicht besser gewählt werden können. Die Presse wurde informiert, Lebensmittel und Schlafgelegenheiten organisiert, und man machte das, was bei allgemeiner Ratlosigkeit immer noch die beste Therapie darstellt: Man gründete Arbeitskreise, die in sämtlichen Räumen des Instituts permanent tagten. Auch im Professorenzimmer, wo inzwischen alle Aktenschränke aufgebrochen waren und offen standen.
„Um 20 Uhr“, heißt es in otto caput Nr. 1, „gab es eine Vollversammlung, die beschloss, die begonnene Arbeit fortzusetzen“, das heißt, über Nacht im Institut zu bleiben. An diesem Arbeitseifer wurde im selben Heft auch Kritik geübt: „Sie unterstellten sich unbewusst dem gleichen unreflektierten Leistungsanspruch, dem sie auch sonst im Institut unterworfen sind. Auf Aktionen von Studenten, die nicht in Arbeitsgruppen organisiert waren, reagierten sie irrational, hysterisch und autoritär, indem sie diese Aktionen als Störungen abqualifizierten (zum Beispiel Herausreißen von Telefonkabeln, Hinauswerfen von Johnson- und Kennedy-Bildern, Bemalen von Wänden).“
Inzwischen sah es schon recht schräg aus, das Institut von innen, wo die Wände mit Plakaten, Graffitis und Wandsprüchen bedeckt waren, aber auch von außen. Neben einem Fenster im zweiten Stock hingen eine Vietcong-Fahne und ein Spruchband: „Erstes BEFREITES Institut der Universität München“. Das sah alles recht gut aus, weil zwischen Erdgeschoss und erstem Stock das ovale Schild mit der großen Aufschrift AMERIKAHAUS hing. Und zwei schräg nach oben gerichtete Fahnenstangen. Ohne Fahnen.
Den Kommentator des Münchner Merkur vom 13. 2. darf man sich beim Schreiben getrost mit Schaum vor dem Mund vorstellen: „Wie weiland von SA und SS wurden Türe und Schränke aufgebrochen und Räume verwüstet und beschmutzt, sodass die Lokalitäten hernach, man gestatte den kräftigen Ausdruck, wie Schweineställe aussahen.“
Frau Bussmann, die Sekretärin, hielt derweil die Stellung im Vorzimmer von Professor Roegele und mokierte sich darüber, jetzt „befreit“ zu sein. Ihr Chef hatte sich schon gegen 13 Uhr verdrückt, war dann noch ein paarmal sinnierend um den Karolinenplatz gelaufen und schließlich verschwunden.
Irgendjemand hatte die Telefonleitung aus der Wand gerissen – ausgesprochen kontraproduktive Destruktion, denn wie sollte die Presse unterrichtet werden, wenn die notwendigsten Kommunikationsmittel zerstört waren? Bis zum Nachmittag musste aus der Zelle vor dem Haus telefoniert werden, dann schaffte es ein Mechanikerlehrling („Ich bin kein Kommilitone, du kannst mich ruhig Genosse nennen“), die Strippen wieder einzuziehen.
Die Besetzung bestand hauptsächlich aus Teach-ins – Reden, Reden, Reden, Selbstdarstellung durch Reden und Wandzeitungen. Später wurde dann direkt auf die Wand gemalt. Das war Sachbeschädigung. Rolf Heißler pinselte in Ölfarbe, Schwarz auf Marmor: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“. Heißler sah aus wie Che Guevara mit zu wenig Tortillas. Später hat er sich der RAF angeschlossen und saß von 1982 bis 2001 im Gefängnis.
Sein Spruch stand noch Monate später an der Wand, als der Institutsalltag längst wieder Einzug im Amerikahaus gehalten hatte. Ich hielt mich dran und legte zwei Jahre danach tatsächlich im selben Institut die Prüfung ab, was ich an jenem Tag bestimmt für unmöglich gehalten hätte. Und Otto „Kaputt“ gehörte zu den humansten Professoren, die ich dabei kennen lernte.
Doch die Prüfung abzulegen, das war schon der nachrevolutionäre Subjektivismus, Ausdruck des Zerfalls, der Zerschlagung der Revolte, für mich auch die einzige Möglichkeit, aus den Hanfdämpfen der Enttäuschung noch einmal aufzutauchen, das Studium abzuschließen und ein Stipendium im Ausland zu beantragen. Nichts wie raus!
Doch erst einmal kam ich rein. Die peinlichste Episode für mich begab sich irgendwann nach Mitternacht, am frühen Morgen des 12. Februar. Im großen Seminarraum hielt sich immer noch der harte Kern auf, vielleicht sechzig Leute. Gerade ging es darum, ob man das Ultimatum des Rektors berücksichtigen sollte – entweder Räumung bis zwei Uhr, oder die Polizei wird räumen. Die Horrorzwillinge – so genannt, weil sie immer zu zweit auftauchten, identische Meinungen vertraten, endlos redeten und saufrech waren – laberten wieder bis zum Überdruss.
In späteren Jahren dachte ich oft: Wenn es Polizeispitzel gegeben hat, dann einer von ihnen oder alle beide. Sie wiederholten immer die gleiche Leier: Nur nicht aufgeben, man muss es dem System zeigen, wir bleiben alle da, Solidarität ist gefragt, nur wenn wir Zeichen setzen und uns notfalls auch verhaften lassen, können wir Wirkung erzielen. Dann würden die anderen Institute auch besetzt werden, die anderen Fachschaften sich solidarisieren, die Revolte übergreifen, die Revolution gefördert werden und so fort.
Während einer der beiden Einpeitscher die seit Stunden bekannten Argumente vorbrachte, erschien Herr Friedberger, der Kanzler der Universität, im Türrahmen. Der Kanzler war so was wie der oberste Verwaltungsbeamte, Vollzugsorgan des (gewählten) Rektors, ausführender Handlanger der politischen Führung, ein kleiner, untersetzter Brillenträger, der ganz aufgeregt und mit rotem Kopf schon am Nachmittag auf die Unrechtmäßigkeit unseres Tuns hingewiesen hatte. Jetzt hatten sie ihn noch einmal vorgeschickt, um den Beschluss der Uni-Oberen zu verkünden.
Doch der Horrorzwilling dachte gar nicht daran, mit Reden aufzuhören.
Schwitzend, im Wintermantel, den Hut in der Hand, stand der Kanzler da und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Ich konnte meine Neugier nicht länger unterdrücken, wollte unbedingt wissen, wie es weitergehen würde: Hatte die Universität eingelenkt oder wollten sie nur ein letztes Mal verkünden, dass die Polizei räumen würde? Ungeduldig herrschte ich den Horrorzwilling an: „Halt jetzt endlich dein Maul und lass den Kanzler reden.“
Es folgte Totenstille. Der Zwilling fasste sich ganz schnell und ignorierte mich einfach. Bevor mir noch klar wurde, was ich da gesagt hatte, tauchte Wolf neben mir auf, den ich vom Politikinstitut kannte, weil er auch im Seminar über Platons Höhlengleichnis saß. „Das nenne ich revolutionär“, zischte er mir zu. „Nur weil so eine aufgeblasene Autoritätsfigur auftaucht, soll einer das Maul halten …“ Ich bekam einen knallroten Kopf. Er hatte ja so Recht, auch wenn mein Motiv Neugier war und nicht so sehr Respekt vor der Amtsperson – mein Einwurf war ganz schön daneben. Ich verdrückte mich in den Hintergrund des Saales. Mein Entschluss, bis zum Ende dabei zu bleiben, stand von da an fest, ich musste meine revolutionäre Gesinnung unter Beweis stellen. Ich hatte in einem entscheidenden Punkt versagt, so viel war klar. Und ausgerechnet Wolf, den ich so bewunderte, rieb es mir unter die Nase.
Sie fuhren gegen drei Uhr morgens vor, eine Hundertschaft, vielleicht auch eineinhalb. Wir beobachteten vom Fenster aus, wie sie sich vor dem Haus aufstellten, zackige Befehle bekamen und den Eingang stürmten. Das Institut lag im zweiten Stock, der Rest gehörte den Amis, und wir achteten strikt darauf, uns als Besetzer nicht mit den Besatzern anzulegen. Doch der Polizei gingen die Unterschiede nicht so deutlich auf. Sie keuchten hoch bis unters Dach und kamen dann geballt von oben und unten – zwei Polizisten pro Besetzer.
Wir hatten uns im Flur auf dem Boden niedergelassen, passiver Widerstand, und skandierten „Bullen raus aus unserem Haus“, was zwar nichts nützte, aber unsere Angst etwas verscheuchte. Je zwei Staatsdiener nahmen einen Rebellen unter den Armen und geleiteten ihn zur grünen Minna. Die Frauen hatten sich geeinigt, sich nur von Polizistinnen verhaften zu lassen, was aber auch nichts nützte, denn es gab keine. So kam es doch noch zu Gerangel, aber da zerrten dann plötzlich vier Mann an einer Frau, und sie hatte keine Chance.
Brigitte Mohnhaupt schrie am lautesten, und sie sitzt heute noch im Gefängnis. Nicht seit jenem Februartag, aber ein paar Jahre später war sie zum Staatsfeind Nummer eins, zwei oder drei erklärt und in Stammheim verurteilt worden. Das war 1982. So ziemlich alle Aktionen der RAF im Jahr 1977 wurden ihr zur Last gelegt. Sie erhielt fünfmal „lebenslänglich“. Nach jetziger Rechtslage kann sie frühestens 2006 freikommen.
In der Ettstraße saß Brigitte mit sieben weiteren Frauen in einer Zelle, die 35 Männer in einer anderen. Dort übernahm Fritz Teufel in der allgemeinen Schläfrigkeit die revolutionäre Initiative und zündete eine Wolldecke an, konnte aber überzeugt werden, dass wir ersticken würden, bevor sie uns freilassen, weshalb einer den Schwelbrand mit Wasser aus dem einzigen Wasserhahn löschte.
Ich war hundemüde, den ganzen Tag geredet und hin und her gerannt, oft nach der Devise „Bist du in Gefahr und Zweifel, renn im Kreis, schrei wie der Teufel“, was sich diesmal nicht auf den Fritz bezieht, der ja eher ein stiller Typ war, schon damals, und als ich drankam mit Fingerabdrücken, Fahndungsfoto und Schriftprobe, schrieb ich: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern. Karl Marx“, und war sehr stolz darauf, dem gleichfalls übernächtigten Beamten damit doch eine gewisse Begründung für unsere „Straftat“ geliefert zu haben, und mutig kam ich mir auch vor. Doch entlassen wurde ich, als einer der Ersten, nicht aus philosophischen Gründen, sondern weil Wohnsitz und polizeiliche Anmeldung leicht zu überprüfen waren.
Ich setzte mich in den eiskalten Fiat, er sprang wie immer erst nach langem Orgeln an, und fuhr nach Hause, irgendwie doch stolz, endlich die revolutionäre Mindesttat vollbracht zu haben und aus politischen Gründen verhaftet worden zu sein. Ich stellte mir Monas Gesicht vor, wenn ich ihr sagte, dass ich aus dem Gefängnis komme. Sie hatte ja immer eine Schwäche für harte Männer, und heute kam ich mir schon ziemlich kernig vor, verwegen, furchtlos der Staatsmacht trotzend – wir würden schon noch rütteln an den Stäben der „repressiven Toleranz“, wie Herbert Marcuse die moderne Form der Diktatur beschrieben hatte.
Ich parkte das Auto vor der Wohnung, sperrte es ab und die Haustür auf und ging die eine Treppe zu Fuß hoch. Die Wohnungstür war verschlossen. Seltsam. Ich öffnete die Tür, knipste das Licht an im Flur. Das große Zimmer badete in bleigrauem Morgendämmer, draußen hatten die Schneeschauer gerade Pause. Mona lag nicht im Bett. Sie kam am späten Vormittag, als ich noch erschöpft schlief. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass sie die Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte.
Das Verfahren wegen Hausfriedensbruch gegen mich wurde eingestellt. Drei Jahre später habe ich Deutschland in Richtung Andalusien verlassen. Mit dem Renault 4. Und mit Mona. Von dort aus flog ich alleine weiter nach Kalifornien. Für immer, hatte ich mir damals vorgenommen.
Hans Pfitzinger, 57, ist freier Autor („The Doors/Tanz im Feuer“) und lebt heute wieder in München