: Vom Imperativ der Spucktüte
Es beginnt mit Unwohlsein, Frösteln und Drücken in der Magengegend. Kotzen bringt nichts. Erleichterung ist nur vorübergehend. Bei schwerer Seekrankheit wird bis zur Magenleere erbrochen. Auf der Helgolandfähre geht man damit locker um
„Funny Girl“ – lustiger Name. Gibt’s nicht ein Musical, das so heißt? Dieses „Funny Girl“ ist eine Fähre und bringt uns von Cuxhaven nach Helgoland.
Man sieht sofort, wer öfter fährt, und wer nicht. Die, die selten fahren, trauen den ersten Seemeilen, die, die immer ruhig sind, essen Pommes oder mitgebrachte Stullen, trinken Bier. Von denen, die oft fahren, trinken auch einige Bier. Und so denken die, die selten fahren, sie machen alles richtig. So sind die Fallen, in die man gerne mal tapst.
Nach einer halben Stunde bittet der Kapitän die Gäste, sich einen sicheren Platz zu suchen, Gläser und Flaschen gut zu verstauen. Es könnte ein wenig unruhig werden. Da grinsen die, die selten fahren, und stupsen sich, weil bislang doch alles glatt ging. „Oller Kapitän“, denken sie. Der Horizont, den man sieht, wenn man aus dem Fenster guckt, und der eben noch dort war, wo er sein soll, ist plötzlich mal zu weit oben und zu weit unten. Mal oben, mal unten. Oben, unten. Ups.
Die Seekrankheit, die der Mediziner Kinetose nennt, kann in der Luft, im Raum, und beim Seemann an Land auftreten. Sie hat mit der ungewohnten Bewegung zu tun. Hoch, runter, das haben wir im Alltag nicht. Entweder hoch oder runter. Es ist der ständige Wechsel, der einem auf den Magen schlägt. Man kann im Auto seekrank werden, in Zügen mit Neigetechnik, Flugzeugen. Der Fahrzeuglenker bleibt meist verschont.
Auf der „Funny Girl“ haben wir es – da wir nun draußen auf der Nordsee sind – mit der klassischen Seekrankheit zu tun. Sie beginnt mit Unwohlsein, Frösteln und Drücken in der Magengegend. Paare, von denen ein Partner angegriffen wirkt, unterhalten sich flüsternd. Hätte man nur nicht die Pommes, die Stulle? Nicht dran denken. Nicht an Essen denken. Aber in der Luft hängt der Geruch, auch der von Bier, dem die Hartgesottenen ungerührt noch immer zusprechen.
Einige liegen leise schnarchend auf zu kurzen Bänken. Stiefel ragen über sie hinaus, die blonde, vierschrötige Stewardess, die längst weder Kaffee, Ei- und Mettbrötchen, noch Piccolo serviert, weicht ihnen aus. Es gibt Reisemedikamente, das sind echte Ausknipser.
Am Nebentisch hat es den Mann erwischt. Sie krault ihn hinter den Ohren. Im Gesicht zwischen den Ohren ist kein Blut. Drüben, die Gruppe, die vor dreißig Minuten eine Lage nach der anderen weggepumpt hat, löst sich auf, jeder sucht sein Heil in der Flucht auf die Toilette. Die wird ein Ort, der auch den Nicht-Seekranken krank macht.
Vor Jahren, in einem Hovercraft auf dem Ärmelkanal, bei Gewitter und schweren Böen, soff eine Horde rotnasiger Schotten die Lager leer. Singend und die Stewardessen – die sich bei dem Seegang kaum auf den Beinen hielten – hin- und her jagend, während sich beim überwiegenden Rest der Passagiere das Innerste nach Außen kehrte. Keine Fluchtmöglichkeit – Hovercrafts haben kein Deck.
Auf der „Funny Girl“ wird in jeder Ecke gegähnt. Schlechtes Zeichen. Uns geht’s gut, wir fuhren kürzlich bei Windstärke 8,5 und vier Meter hohen Wellen nach Helgoland. Da waren auch wir kurz davor, dem Magen freien Lauf zu geben. Jens Röw, der auf dem Leuchtturm Helgoland arbeitet und dessen Familie Jahrhunderte lang vom Fischfang lebte, war als Kind seekrank, bis es in der Pubertät aufhörte. Bei anderen hört es nie auf. Seeleute, die Jahrzehnte unbehelligt blieben, werden von der Kinetose überrascht.
Ein junges Mädchen führt als erste die Spucktüte ihrem Zweck zu. Sie lässt, weiß wie die Wand, die Tüte offen stehen, was geruchstechnisch und überhaupt gefährlich ist. Ein Passagier macht sie darauf aufmerksam.
Die Stewardess geht durch die Reihen und verteilt Spucktüten. Sie schaut jedem ins Gesicht und entscheidet dann. Wir kriegen keine, der Nebentisch schon. Und, als sei die Spucktüte eine Aufforderung, steht der Mann auf und macht sich auf den Weg. Das Kraulen war vergeblich.
Ein säuerlicher Geruch weht durchs Schiff. Der Weg nach Helgoland, zweieinhalb Stunden, zieht sich, wenn einem übel ist. Bei Gegenwind und schlechtem Wetter kann sich die Fahrtzeit um bis zu einer Stunde verlängern. Nun befasst sich auch die fidele Piccolo-Combo mit den Spucktüten. Die Stewardess hat sich in keinem einzigen Fall geirrt. Wer sehr elend aussieht, bekommt Tipps: An Deck gehen, frische Luft schnappen, auf den unbeweglichen Horizont schauen.
Kotzen bringt nichts. Die Erleichterung ist nur vorübergehend. Bei schwerer Seekrankheit wird bis zur Magenleere erbrochen. Weiter treten auf: schwere Depression und der Wunsch zu sterben. Es gibt Leute, die wollen dann über Bord springen. Heute nicht.
Wer die Fähre meiden will kann fliegen. Wobei das in den kleinen Maschinen wenig Spaß macht. Andere Spucktüten, keine Toiletten, kein Deck, keine Frischluft.
Und man kann nicht auf Gummibeinen die Gangway herunter staksen, bis man Helgoländer Boden unter den Füßen hat. Man dreht sich um und sieht durchs Bullauge die Stewardess, die aufräumt. ROGER REPPLINGER