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Archiv-Artikel

Dann Belgrad, dann Athen

Run, Surf, Brenn – einen Monat mit dem Interrail-Ticket kreuz und quer durch Europa. Immer in Bewegung, dem Weiter hinterher. Eine Geschichte von unterwegs

VON HENNING KOBER (TEXT und FOTOS)

Richtig fängt es am vierten Tag an. In Wien, am Westbahnhof. Da war ich schon in Warschau, Krakau und Prag. Reisen ist ja wie ein guter Traum, man muss erst ein bisschen reinkommen. Ich sitze im Eurocity 25 nach Budapest. Das ist schon mal das Wichtigste. Sitzen. Und zwar im Zug. Meine Schlagader an der rechten Hand macht Bewegungen wie ein springender Fisch. Links gar nicht. Da ist sie tot. So was von tot. Das Rodrigo-Poloshirt klebt mir an der Brust. Die Klimaanlage kühlt stark. Irgendwoher spielen New Order.

„Wollen wir den noch kurz rauchen?“ Das ist mein Freund Julian etwa eine halbe Stunde vorher am Naschmarkt. Seine Finger schnippen nach der aufgerissenen Packung mit den fertig gerollten niederländischen Dope-Joints, die mir in Prag ein All-American Girl aus undurchsichtigen Gründen überlassen hatte. „Schaffst du noch“, waren Julians Worte, die Augen kurz vorm Bluten. Als die U-Bahn am Westbahnhof einfuhr, war der Zug auf der Uhr schon abgefahren. Der Run durch die völlig überfüllten Katakomben des Westbahnhofs nur aus Prinzip. Tunnelblick. Hoch zu den Fernbahngleisen. Und dann hat es natürlich doch gereicht, weil der Zug ja noch steht und jetzt eine Stimme durch den Lautsprecher sich entschuldigt: „Ein Problem mit dem Speisewagen.“

Im Hintergrund johlt eine betrunkene Schulklasse, die den Gang belagert. Die Dame ohne Tasche mir gegenüber schaut auf meine Füße. Ich blinzle. Netzhautflimmern, vielleicht auch ein Problem mit den One-day-Linsen, die ich schon wieder seit Wochen trage. Ich frage die Dame auf Englisch, ob wir fahren. Und sie starrt mich nur an. Aber es stimmt. Wir rollen. Ich zünde mir eine Zigarette an, und alles ist gut, denn das Wichtigste an diesem Trip ist ja, in Bewegung zu bleiben. New Order spielen „Blue Monday“.

Ein Monat Europa, alle Himmelsrichtungen, immer dem Weiter hinterher, an neue Orte auf der Suche nach unbekannten Bildern, Glück, Schönheit und einem Gedanken. Freiheit, ritsch, ratsch gekauft für 399 Euro. Ein schneller Surf durch achtzehn Länder, von denen ich die meisten noch nie betreten habe. Ein Ritt auf dem Interrail-Ticket, erfunden vor 32 Jahren aus der idealistischen Idee, die Jugend Europas einander näher zu bringen. Zu einer Zeit, als der Backpacker noch nicht Teil der Tourismusindustrie war und niemand auf die Idee gekommen wäre, sich auf der Toilette eines italienischen Liegewagens den Hintern mit Seiten aus dem Alternativreiseführer „Lonely Planet“ abzuwischen, weil der eben auch noch nicht erfunden war.

Damals, Mitte der Siebziger, muss das Interrail-Ticket eine ähnliche Bedeutung wie der Otto-Katalog gehabt haben. Exit Provinz. Mit dem Unterschied, dass die einen tatsächlich in die weite Welt fuhren und die anderen sie sich nach Hause liefern ließen. Heute reist man – egal, ob jung oder älter – am schnellsten, einfachsten und günstigsten mit dem Flugzeug. Für 19 Euro oder 29 oder 39, auch okay. – Ist es nicht, denn genau ums Irgendwosein und ums Wissen, wo man ist, geht es ja gerade nicht.

Ich sitze also im Zug. Im EC 25, der in Pastellfarben jetzt über rasiert flaches Land Richtung Budapest gleitet. Es scheint, als gehe es ständig ganz leicht, so um fünf, sechs Grad, bergab. Die Stimmen der sich unterhaltenden Mitreisenden schnattern mir wie angeklebt ins Ohr. Nervös macht das. Klar, die ganze Aktion ist ein Versuch mit dem Selbst. Fremde Bilder, Gerüche, Menschen und ihre Wünsche prallen ans Ich. Ein Spurt für Körper und Seele, gezwungen zur Reaktion. Die einfache Lösung jetzt: Den Sound hochdrehen. New Order spielen „Temptation“. Sofort klingt die Welt anders. Stimmungswechsel.

Ganz wichtig: Füße ruhig halten. Besonders wenn nichts oder das Falsche passiert. Vorgestern war ich noch genervt aus Prag weggelaufen. Der Fehler war der aus Zeit- und Gedankenlosigkeit gewählte Ort für die Nacht, ein Hostel, das Golden Sickle, empfohlen von „Let’s go Europe“, dem „Lonely Planet“-Konkurrenzprodukt, fast identisch, genauso doof. Eine Erwähnung darin, und der Gästestrom, vor allem bestehend aus Nordamerikanern, fließt. Im Zehnbettlager drei All-American Girls aus Chicago. Sie haben diese fertig gerollten Joints aus Amsterdam. Nun gut. Wir sitzen im Innenhof. Das Mädchen mit den Locken heißt Lisa und macht ständig Handstand, an die Wand gelehnt. Eine Yogaübung zur Entspannung. Wenig später sitzt sie auf meinem Bett, das eine durchgelegene Matratze ist. Der betrunkene Typ am Eingang („It’s my first night in this job, sorry!“) konnte keine Bettwäsche finden. Sie riecht nach Altoids-Minze und will mehr, als in Frage kommt. Dazu muss man wissen: In den USA lief gerade ein Film, „Eurotrip“, der in „American Pie“-Manier vom aufregenden Leben amerikanischer Backpacker in Europa erzählt. Am nächsten Morgen bin ich früh abgereist.

Also die Füße ruhig halten. A boy in a train. Musikhören. Nico, „Chelsea Girls“ zum Beispiel. Landschaft hinter dem Fenster anschauen. Im Speisewagen ein Bier trinken. So geht’s gut. Dann bin ich in Budapest. Dann in Belgrad. Dann in Athen. Da lerne ich Andrew aus Kanada kennen. Wir sitzen im Hof des Student and Traveler Inn, auf einem Großbildfernseher läuft CNN, ein Nancy-Reagan-Special. Im Hintergrund spielen die Beach Boys „I Can Hear Music“. Wolken von frisch gerauchtem Gras. Andrew trägt ein T-Shirt mit „Blackpool Pleasure Beach“-Print und erzählt, Glitzerpunkte in den Augen, wie er letzte Woche im Morgengrauen auf den Berg Sinai gestiegen ist. In Toronto hat er in einem französischen Restaurant als Koch gearbeitet. Der Chef hat sich abgesetzt, er schuldet ihm noch zwei Monatslöhne. Alle, die ich treffe, sind gerade mit etwas fertig, mit der Schule, einem Job, einem Freund oder einer Freundin. Oder sie haben das Gefühl, etwas könnte zu Ende sein. Die Antwort darauf ist der Trip, die Reise, der Urlaub.

Eine frühe Entscheidung macht den Unterschied: Mit wem gehe ich an den Start? Sie bestimmt den Takt, in dem später alles schwingt. Unterwegs sind die Jungsgruppen, wie Kurt, Bob und Jerry aus North Dakota, mit denen ich den Nachtzug nach Barcelona teile. Sie erzählen von hübschen, betrunkenen Mädchen mit harten Körpern in Bars, in denen sie selbst sehr betrunken waren. Florenz war das. Jetzt an die Atlantikküste, surfen. Freunde sind sie seit langem, die Beziehungen geklärt. Sie kennen sich gut, zu gut. Dem Abenteuerspielplatz bleibt nicht viel Platz. Zusammen schauen sie die Fußballspiele der EM.

Ähnlich die Mädchengruppen, zum Beispiel die drei aus Chicago. Eine hat die Reiseleitung übernommen, „Lonely Planet“ durchgearbeitet. Sorgfältig wurden Ziele ausgewählt. Eine beliebte Kombination: Prag oder Krakau (Osten, Kultur), Barcelona oder Amsterdam (Shopping, Kiffen, Jungs), und Lagos oder Kreta (Strand, trainierte Jungs). Sie reisen mit dem Flugzeug, weil Eurail, die Schwester des Interrail-Tickets für Nichteuropäer, teurer ist. Sie haben viel Gepäck, sind erlebnisdurstig und sich nicht ganz sicher, ob man sich auf die Freundin wirklich hundertprozentig verlassen kann, wenn der Freund zu Hause nach den Erlebnissen fragt. Verschenkt. Und geschenkt. Denn soll etwas passieren mit deinem Ich und dem Planeten, der um dich kreist, führt kein Weg vorbei an der Solonummer. Garant für das starke Erlebnis und einen extremen Ausschlag auf dem Gefühlsthermometer, inklusive schrecklich alleineinsam und einsamglücklich.

Das ernsthaft allein reisende Mädchen, die Königsbiene der Coolness, habe ich während der vier Wochen nirgends getroffen. Su nicht mitgerechnet. Eine Koreanerin, mit ganz leiser Stimme, die mich am Bahnhof in Warschau um Hilfe beim Kauf eines Zugtickets bat. Das rosa Lonsdale-Poloshirt, der Mangaprint auf ihrem Koffer und die kleine, kalte Hand an meinem Arm jagten mir jedoch den Zweifel ins Kleinhirn, ob hier eine Unterwelt-Agentin oder einfach ein sehr zartes Mädchen vor mit steht. Dazu die Geschichte, sie fahre zu einem Computerkongress nach Krakau, ausgerechnet Krakau. Oder macht das Sinn, schon weil es so unsinnig klingt? Ein schöner Nebeneffekt: Je fremder die Umgebung, desto schwieriger ist die Realität einzuschätzen. Schön fühlt sich das an, zu merken, dass das Kind in dir aus deinen Augen schaut.

Mit Andrew, diesem ironisch grinsenden, stillen Alleinreisenden, bin ich auf die Akropolis gestiegen. Blick von oben auf alles. Irgendwo explodiert ein Feuerwerk. Hubschrauber knattern. Aus einer kleinen Box spielen die Beach Boys „Transcendental Meditation“. So schön, dass man sich das Bild, das ganze Setting sofort auf die Kontaktlinsen brennen möchte. Wir sprechen wie Brüder. Es gibt ein Problem mit Andrews Vater. „Schon der Gedanke, sein Sohn zu sein, macht mich krank.“ Es gibt nichts zu verbergen. Morgen fährt jeder allein weiter. „Walk on by“ spielen die Beach Boys. A boy in a train geht nicht zu zweit.

Auf der Superfastferry XII, die mich von Patras nach Italien schiebt, bereue ich das ein wenig. Noch steht der schicke Dampfer im Hafen. Die Sonne knallt heiß vom Himmel. Ich liege am Pool auf Deck 10, trinke einen zweiten Gin Tonic und schaue. Eine Amerikanerin, Jeansrock, Goldarmbanduhr, die langen blonden Haare unter einem Strohhut, flirtet distanziert und begehrlich zugleich mit einem langhaarigen Typen, der ein T-Shirt mit „Work Is For Losers“-Aufdruck trägt. Ihre drei Töchter beobachten die beiden aus Liegestühlen. Auf der Holzbank strecken sich zwei extrem gebräunte Onassis-Griechen. Ein asiatischer Hardbody lackiert sich die Fußnägel, mintgrün, und liest gleichzeitig in der italienischen Vouge. Starker Chlorgeruch. New Order spielen „Crystal“. Die ganze Szenerie glänzt extrem schrill. Wie aufregend, denke ich, tausend Menschen sind für eine Nacht in ein großes, schwimmendes Haus gesperrt, im Hintergrund leichte Vibration.

Drei Stunden später: Ich sitze auf einem Sofa neben dem verwaisten Kinderparadies auf Deck 9. Totales „Lost in Translation“-Gefühl. Die Superfast XII ist kein Abenteuerspielplatz, sondern ein fieses Bleigefängnis. Auf dem Oberdeck diskutieren wodkatrunkene Rucksack-Amerikaner laut über „cheap hostels“. Auf der anderen Seite sitzen Rucksack-Japaner, die sich starr in den Monitoren ihrer Laptops spiegeln. Im Restaurant schauen Fernfahrer ein Fußballspiel. Auf den Gängen laufen die immer gleichen Gesichter endlose Kreise. Ich kann mit niemandem sprechen. War dreimal im Duty-Free-Shop. Fünfmal an der Bar. Dort wissen sie jetzt, dass ich kein Warsteiner mag. Sitze jetzt einfach nur noch da, rauche Kette, Duty-Free-Zigaretten, ignoriere die zwei amerikanischen Mädchen, beide im gleichen Tommy-Hilfiger-Shirt, die mich anschreien: „Let’s go dancing!“, und in Richtung der Borddisko hüpfen, wo Avril Lavigne gespielt wird. Fühle mich schrecklich alleineinsam. Nur ein kleines Blitzen: Auf der Sofalehne machen zwei Mücken sanft Liebe.

Am nächsten Abend Rom. Das Stimmungsroulette dreht sich glücklich. Wohne bei meiner Freundin Anna und deren Verwandtschaft, einer wunderbar liebevollen italienischen Familie. Ich lerne, dass baci Küsse sind, Sergio Leone ein Meister war und eine canona ein dicker Joint ist. Sid Vicious grölt „My Way“.

Im Eurostar Italia nach Mailand. Im Nachtzug nach Barcelona. Dort ist gerade Sonar, größtes Festival für elektronische Musik. Es legt auf Miss Kittin, glaube ich zumindest. Die Bässe donnern gewaltig. Ich sitze, schaue in einen weiten Regenbogen, der in Mareks Augen blüht. Er kommt von der Isle of Wight und sieht aus wie der junge Leo Fitzpatrick. Wir reden irgendwas, ich suche das englische Wort für „Proll“. Marek weiß es, proll. Seine Hand ist an meinem Bein. Wir knutschen ein bisschen. Strahlen aber viel zu sehr auf bunter Chemie. Tausend Kabel verbinden den Atompilz im Magen mit der Zunge. Irgendetwas wandert durch die Wirbelsäule. Wir lassen es gleich wieder bleiben und gehen zum Autoscooter, der im hinteren Teil der Jumbohalle blinkt. Fahren unanständige Fintenkleckse und knallen Mädchen mit schlechten T-Shirts in die Seite.

Tags darauf zieht mich ein Zug der Refe, das ist die spanische Bahn, nach Alicante. Der Euromed-Express, der nur sechs Euro Aufpreis kostet (tatsächlich muss man für alle Intercitys und schnelleren Züge einen kleinen oder größeren Aufpreis bezahlen), könnte Tyler Brulés Kopf entsprungen sein. Ein Glas Champagner wird gereicht, die gelben Lampen sorgen für ein vorteilhaftes Innenlicht. Mandelduft. „Faster“ singen die Manic Street Preachers.

Am Abend bin ich in Benidorm. Chic-skurriler Hochhauspark an der Costa Blanca, Erholungsbad der europäischen Working Class. Lads aus Leeds zeigen mir, wie der Tag funktioniert. Früh zwei, besser drei Bier. Richtiger Pegel, um jede Stunde kurz aufzustehen und den Liegestuhl der wandernden Sonne hinterherzudrehen. Underworld spielen „Born Slippy“. Spaß für einen Tag, dann Gibraltar. Dann Tanger, Marokko, Afrika. Jeder Schritt wie auf Treibsand, das Dope ist unheimlich stark. Nach zwei Tagen drucke ich im Internetcafé eine Dreißigstundenzugverbindung nach Amsterdam aus.

Zwischen Madrid und Hendaye an der französischen Grenze ein Nachtzug, Liegewagen. Ungewisse Lotterie. Kann sehr gut gehen, wie von Belgrad nach Thessaloniki, wo man allein in einem holzgetäfelten Abteil rollt, der herzliche, grauhaarige Schaffner Wasserkaraffen reicht und mit einem sanften Händedruck die Unsicherheit verjagt, als der Zug um halb zwei in den gespenstischen mazedonischen Grenzbahnhof einfährt. Oder eben auch sehr schief gehen. So wie jetzt. In Madrid-Chamartin sind mit mir viel zu viele schwer berucksackte Menschen eingestiegen. Auf dem Gang allgemeine große Suche nach dem richtigen Abteil, dem richtigen Bett. Rote Gesichter drängen sich viel zu nah.

Zuvor: Ich war angestrengt von den neun Stunden zwischen Tanger und Madrid. Wollte den Schatten der vier aus Kansas loswerden. Im Nachtzug gleich schlafen. Die Zeit vorspulen. Als Sandmännchen einen lieben, kleinen Tanz in mir selbst. In meinem Abteil bisher nur eine Frau, knapp vor 60, die sofort ein Gespräch anfängt, genau nach meinem Alter fragt und irritierenderweise nur noch einen türkisgrünen BH trägt. Für dieses Setting ist das Marokko-Dope viel zu stark. Ich bin unendlich erschöpft. Das Abteil ist mini, zwischen mir und ihrem scharfen Blick zu wenig Platz. Raus geht auch nicht, der Gang ist voll mit aus Tetra Paks Rotwein Trinkenden. Sie, Habitus einer notorischen Lehrerin (ist sie auch, für Französisch), setzt das Thema deutsch-französische Geschichte. Dann: In kleinen Englischhäppchen erzählt sie von ihrem Vater, der in Dachau im KZ war. Lange Jahre kann sie, kann ihre Familie „deutsch“ nicht aussprechen. „Boche“ ist das Ersatzwort. Wie soll man die Situation denn jetzt gutmachen? Flimmerkontrast vor den Augen. Bald schlafen wir. Mitten in der Nacht weckt mich der Schaffner. Ich habe einen Fehler gemacht, Abteil sieben mit acht verwechselt. Draußen steht eine dicke Blondine, genervt.

In Amsterdam trinke ich nur Wasser. Das Rotlichtviertel bei Nacht trägt ein fratzenhaftes Höllengesicht. Über den Menschen sammelt sich ihr Zigarettenrauch zur Form nackt tanzender Dämonen. Gier, Verzweiflung, Melancholie glänzen in den weiten Augen. Angenehme Orte zu finden ist mindestens so schwierig wie die Suche nach schönen Gesichtern. Weiter, in Bewegung bleiben hilft sehr, spielt schnell mit den Aggregatzuständen der Stimmung. Die Kamera – meine Augen, die Bild nach Bild belichten – sehnt sich jetzt nach einem klaren, optimistischen Motiv.

Ich fahre nach Brighton, Sweet Sussex. Über den Pier schiebt eine alte Dame ihre Freundin im Rollstuhl. Beide essen rosa Zuckerwatte. Der Mond blüht, macht dem stillen, schwarzen Wasser einen silbernen Fleck. Es ist kurz nach Mitternacht. Ich sitze auf dem Kieselstrand, Iggy Pop singt „Some Wired Sin“. Ich bin schrecklich einsamglücklich und überlege, ob ich hier jetzt gleich in diesem Bild ertrinke oder ob man dazu ins Wasser gehen müsste, das langsam wieder zu steigen anfängt. Über mein Gesicht läuft eine objektlose Tränenrollbahn. Weinen fühlt sich warm und weich an, und Schwindel erregende Kinderfotos schieben sich in den Projektor. Italienischer Strand, halblange, blonde Haare um meinen Kopf, gehalten von einem Schild mit Plastikglas. Die Welt sieht gelb aus. An den Händen meine Eltern. Wir laufen endlos weit. Die Pet Shop Boys singen „Se a Vida e“.

Die letzte Woche. Die Zeit vergeht schnell und langsam zugleich. Schon fällt es mir schwer, die ersten Aufnahme aus Polen, aus Österreich zu ordnen. Ich fahre nach Manchester. Von Rave-Madchester ist nicht mehr viel übrig. Aus Glasgow fliegt mich Ryan Air nach Stockholm. Rede eine ganze Nacht mit Samon, einem schönen Träumer aus Idaho, der seine Drumsticks überallhin mitnimmt. Es ist kurz nach drei, der Himmel hell. Tatsächlich wird es nie richtig dunkel. Wir sitzen im Hafen, das königliche Schloss im Rücken. Die Wachgarde, fröhliche junge Soldaten, die wie Dior-Models aussehen, zieht vorbei. Auf der glatten Wasserfläche warten die Schärendampfer auf den nächsten Tag. Keiner sagt ein Wort. Aus einer Box spielt Iggy Pop „Passenger“. Ein Fisch springt einen Salto.

HENNING KOBER, 23, freier Autor, lebt in Berlin