: Ein Mokassin für Bleichgesichter
Sioux, die Schuhmarke mit dem fabelhaft elastischen Indianer, feiert dieses Jahr fünfzigsten Geburtstag, das legendäre Modell Grashopper seinen vierzigsten. Eine Hommage an eine großartige Idee, die den Deutschen das Leisetreten nahe brachte – ohne dass sie deshalb rot zu werden brauchten
VON NIKE BREYER
„Das ist nicht Ihr Ernst. Das sind ja Schuhe zum Waldbrandaustreten.“ Die auf schlank, spitz und unbeschreiblich weiblich eingestellten Schuheinkäufer schauten empört, als man ihnen 1964 das neue Sioux-Modell Grashopper vorstellte.
Man habe diesen Schuh, einen schlichten Mokassin aus sandfarbenem Wildleder auf weicher Kautschukkreppsohle, damals einfach nicht verstanden, erinnert sich Walter Fetzer, über vier Jahrzehnte Marketingchef der damals jungen Schuhmarke. Zu ungewohnt, geradezu ein Schock sei die Form im ersten Moment für das Publikum gewesen, zu einer Zeit, als man sich nicht ungern gerade an die fußmordenden Bleistiftabsätze (samt weiblicher Wirbelsäule in S-Kurve) gewöhnt hatte, die um 1960 technisch erstmals möglich geworden waren. Vorne eckig und in der Mitte unerträglich breit, empfand man das neue Sioux-Modell, das unter dem Slogan „naturtreu“ endlich Freiraum für die Zehen propagierte, als uncharmant, ja als unanständig freizügig.
Ein Anfall von Idiosynkrasie, so kann man sich im Rückblick nicht zu bemerken verkneifen, den sich die Zeitgenossen schon bald abschminken sollten, als sie angesichts in Mode kommender studentischer Lockerungsübungen wie Sit-ins, Teach-ins, Demonstrationen und sexuell befreiter Kommune-Experimente mit ganz anderen Dosierungen von Libertinage und Rebellion gegen überkommene, einengende Formen konfrontiert waren.
Aber zurück zur Zehenfreiheit. Zwar hatte Sioux in den letzten Jahren schon mehrfach überraschende Modelle herausgebracht, vom kessen Teenager-Mokassin Caramba (1960), der den Spagat schaffte, als Begleiter von Rolli und Petticoat ebenso gut auszusehen wie zu kurzen Hosen und Pfadfinderhemd, über den Autoped (1957) mit seiner praktischen Kreppgummiferse zum Gasgeben im neuen Statussymbol Automobil, bis zum Intasia (1958), einem stadtfeinen Loafer, in dessen Ledersohle dekorativ-griffige Stoppernoppen aus Gummi eingelassen waren, dreißig Jahre vor den heute notorischen Tods.
Intelligente Konzeptschuhe waren seit der Gründung von Sioux im Jahr 1954 das Markenzeichen der ehrgeizigen Schuhfabrik aus dem Schwäbischen. Der neue „Naturtreu“-Treter Grashopper mit der Optik einer Zigarrenkiste und dem Tragegefühl eines Turnschuhs war des Innovativen denn aber doch zu viel, mutmaßten die schockierten Agenten des Handels. Am Markt, war man sich sicher, würde er chancenlos bleiben. Eine kapitale Fehleinschätzung. Von wenigen Wagemutigen erst einmal in den Schaufenstern der Großstadtschuhläden platziert, wurde der Grashopper vom Publikum jeden Alters in kürzester Zeit angenommen und eines der erfolgreichsten und (gemäß Coco Chanels Diktum, dass eine Kopie die ehrlichste Form des Kompliments sei) meistgehuldigten Modelle der modernen Schuhgeschichte.
In den 60er-Jahren, noch weit entfernt von heutiger Routine, mit der Prominente für penetrante Produktwerbung jeder Art eingespannt werden, darf man eine Sioux-Trägerin der ersten Stunde als Glücksfall werten: Diana Rigg, noch besser bekannt als Emma Peel, schlagfertige Agentin und Heldin der britischen TV-Serie „Mit Schirm, Charme und Melone“, die vom schwarzen Leder-Catsuit bis zum persönlichen Kraftfahrzeug der Marke Lotus Elise stets Geschmack bewies. Ein in Sioux-Besitz befindliches Foto zeigt die schicke Mrs. Peel in feuerrotem Hosenanzug. „Avengers“-Filmpartner Patrick MacNee alias Mr. John Steed, diesmal seltsamerweise in der Montur eines englischen Polizisten, umfasst resolut ihre Knie und ist gewillt, sie auf Händen zu tragen. Dabei hat sie das gar nicht nötig, trägt sie doch ein Paar original Sioux-Grashopper!
Der Grashopper hat, wie schon erwähnt, nicht nur zahllose Bewunderer und darum eine noch größere Zahl illegitimer Geschwister. Es gibt auch einen rechtmäßigen Klon, der vor allem Liebhabern von zeitgenössischem Britpop nicht unbekannt sein dürfte: Gemeint ist das Modell Wallabee der englischen Firma Clarks. Es wird gelegentlich von englischen Popstars wie den Brüdern Gallagher von Oasis oder Damon Albarn, dem Sänger von Blur, spazieren getragen – sofern man den Paparazzifotos einschlägiger Magazine vertraut.
Und das ist die Geschichte: Weil zur Mitte des letzten Jahrhunderts – vor Zeiten der Globalisierung, als auch Fabrikanten noch Menschen waren – die Familie Clark, unter anderem im Besitz der Schuhfirma Clarks, und die Familie Sapper, Besitzer von Sioux, befreundet waren, schickten die Clarks den jungen Lance, der ins Familiengeschäft einsteigen sollte, Ende der Sechzigerjahre zu einem Betriebspraktikum nach Deutschland, zu Sappers. Hier stieß Lance Clark auf den in Deutschland gerade populär werdenden Grashopper, erkannte hellsichtig dessen Potenzial und ließ nicht locker (war er Emma-Peel-Fan? Kannte er das Foto?), bis er schließlich von Sioux-Chef Peter Sapper einen Vertrag erhielt, um diesen Schuh auch unter dem Namen Clarks herstellen zu dürfen. Die Rechnung ging auf. Als zehn Jahre später Sioux mit einem rauschenden Fest sein fünfundzwanzigstes Jubiläum feierte, überreichte der angereiste Lance Clark dem Jubilar ein symbolträchtiges Geschenk: einen Plüschtier-Grashüpfer und ein Plüschtier-Känguru, englisch wallabee. Beide Tierchen hüpfen, soll Clark in seiner Ansprache augenzwinkernd angemerkt haben.
Betrachtet man die nunmehr ein halbes Jahrhundert umfassende Geschichte der Marke Sioux, so beeindruckt ihre bis heute stabile Bekanntheit und nach periodischen Dürrephasen tapfer verteidigte Vitalität. Diese relative Gesundheit verdankt sie einem Verstärkereffekt, der sich aus dem günstigen Zusammenspiel von drei maßgeblichen Faktoren ergibt: dem dauerhaft soliden Produkt, der vor allem in der Gründerzeit den Nerv der Zeit treffende Philosophie sowie erfinderischen Erfindern, Helfern und Helfershelfern.
Die Schuhe: Eine Perlenschnur intelligenter Konzeptschuhe (siehe Randspalte auf der folgenden Seite) zieht sich durch die Kollektionen vor allem der stilprägenden ersten fünfundzwanzig Jahre, flankiert und akzentuiert von naturgemäß weniger spektakulären, dabei stets ebenfalls solide-modernen Saisomodellen und -formen im typischen Sioux-Look.
Innovation spielte dabei von Anfang an eine besondere Rolle. Das Design sollte nicht nur Gegenwart resümieren, sondern jedem Schuh (lange vor Bama wurde in der Herbstkollektion 1969 der Sioux-Halbschuh Cortina mit einer Skischuhschnalle verschlossen) ein kleines Versprechen einbauen – auf etwas Unbekanntes, auf eine vage, verheißungsvolle Zukunft voll neuer Möglichkeiten. Dabei ging es immer darum, die neue Form entlang dem visuellen Standard der jeweiligen Gegenwart zu fassen und in eine grundsätzlich tragbare Ästhetik zu übersetzten. Kein verkrampftes Streben nach Zeitlosigkeit – Klassiker wurden die schönsten Sioux-Modelle ganz von allein –, aber auch kein hyperfuturistischer Freestyle für geltungssüchtige Exzentriker.
Jahrzehnte später machte diese Konzeptkultur allenthalben Schule und wurde in kommerzieller Zuspitzung vor allem von der Sportartikelindustrie bei High-Tech-Trainern fortgeführt, wo über periodische schuhtechnologische Innovationen Turnschuhe als einzigartige Produktstars präsentiert werden. Nach diesem Prinzip, etwas niedriger gehängt, arbeitete Sioux schon vor vierzig Jahren beim Grashopper.
Dessen bahnbrechende „Technologie“ war das ihm eingebaute Emanzipationsprogramm: Als dafür der aus dem Sanitärbereich stammende Fußformleisten für einen Straßenschuh „umgenutzt“ wurde, geschah dies, um den Körper in sein Recht zu setzen. Das durfte man als eine – durchaus versöhnliche – Verstofflichung des Zeitgeists verstehen, der bekanntlich gesellschaftlichen Konventionen und steifen Formalismen damals drohend die rote Karte zeigte.
Im Umfeld der Mode blieb dieser Sioux-Konzeptschuh gleichwohl zunächst eine Provokation, und es galt, ihn – vor Flowerpower und Landlebenromantik, vor der Birkenstocksandale (die 1965 geboren wurde) und der Ökobewegung – zunächst durchaus gegen den herrschenden Zeitgeschmack durchzusetzen, der zu Beginn der Sechzigerjahre mit Wespentaille und Bienenkorbfrisur noch störrisch eine Ästhetik der Körperdiziplinierung exerzierte. Aber: Der antiautoritäre Impuls zeigte sich stärker als das Beharrungs- und Integrationsvermögen der alten Ordnungen. Was der Fußformleisten vorformuliert hatte, wurde unaufhaltsam Populärkultur.
Als auch vorpolitische Formen der Entdisziplinierung (wie etwa provokanter Wildwuchs des Haupthaars, das Recht auf notorisches Mitreden und eine eher unkonturierte Selbstverwirklichung oder auch so genanntes Aussteigen) Mode wurden, war es wiederum ein Sioux-Schuh, der den Animus dieser Zeit ikonisch formulierte: Der 1972 lancierte Outsider war ein preisgünstiger, flexibel genähter Knöchelstiefel, ebenfalls auf Naturformleisten, der durch seine Strapazierfähigkeit und informelle Vielseitigeit gefiel und als Alternative zum leichteren Desertboot von Clarks die konstitutionell Robusteren unter den Schülern und Studenten für sich gewann. Nach längerer Laufzeit und darauf folgendem Aussetzen wurde er als Camel-Boot wiedergeboren und erneut ein Dauerläufer.
Dass Sioux-Schuhe bei aller Konzeptseligkeit stets nicht nur gut gebaut zu sein (Mokassinmachart und verwandte Nähtechniken) und modern auszusehen hatten, sondern auch – typisch deutsch – den Grundanforderungen an eine fußfreundliche Passform genügen mussten, ist ein weiteres Kernstück der Markenkonzeption. Diese prinzipielle Körperorientiertheit der Sioux-Mokassins, die seinerzeit mit Pionier-, wenn nicht Missionarsgestus in die Schuhmode eingeführt wurde, hat zwar heute nicht mehr den Nimbus des Revolutionären, sichert der Marke jedoch stabile Sympathiewerte, die es ihr erlaubten, sich auch in schwierigen Zeiten zu behaupten.
Auf die innovative und von unternehmerischem Aufbruch geprägte Gründerzeit unter dem feinsinnigen Peter Sapper folgten nach dessen Tod die deutlich schwierigeren 80er-Jahre, als seine Witwe Karin Sapper die alten Qualitätsansprüche, betreffend Material und Fertigung, gegen die Angriffe neuer Billigstprodukte aus dem Ausland verteidigen musste. Das Design dieser Jahre ist defensiver und konservativer und ruht weitgehend auf einer eher schüchternen Weiterentwicklung der bewährten Konzepte. Der steile Aufstieg der Turnschuhe vom reinen Sportgerät zum Bequemschuhwerk der Großstadtjugend setzte Sioux dramatisch zu. Er ließ den alten Emanzipationsgedanken „Komfort trifft Mode“ ins Spießige kippen, die Umsätze einbrechen und katapultierte das Unternehmen zeitweilig an den Rand der Katastrophe.
Als Anfang der 90er-Jahre Salamander das Unternehmen Sioux übernimmt, kann sich die Marke konsolidieren, indem man auch die Kommunikation neu aufpoliert. Die seinerzeit von Hanns Erich Köhler (1905–1983), dem langjährigen politischen Zeichner der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Freund von Peter Sapper, entworfene Bildmarke des schleichenden Indianers wurde in der neuen Werbung zum Leben erweckt, der Auftritt in eine neue Richtung gedreht.
Im Umfeld von Retrotrends und hochtourigem Technizismus, wie sie für die Mode und Schuhmode der 90er-Jahre typisch waren, konnte sich Sioux als unaufgeregter Klassiker etablieren. Die Fremdzuschreibung „spießig“ übersetzen die heutigen Verantwortlichen im Hause Sioux in „bodenständig“. Nach fünfzig Jahren beeindruckend praller Tradition sollte es heute darum gehen, dieses Kapital in Zukunft etwas wagemutiger zu interpretieren.
Es war ein letztlich konservativ gefasster Begriff von Modernität, den Sioux-Gründer Peter Sapper seinerzeit dem Entwurf seiner Marke zugrunde legte. Auf der einen Seite zeigte er sich in allen gestalterischen Belangen, vom Design der Schuhe über die Messestand- und Bürogestaltung bis zur Fabrikarchitektur, einer klaren, sachlichen, im herkömmlichen Sinn modernen Formensprache verpflichtet, die bei einer fast obsessiven Sympathie für moderne Technik auch einen Hauch von Großspurigkeit nicht unterdrückte. So plante Sapper zeitweilig einen Hubschrauberlandeplatz hinter dem Walheimer Fabrikgelände, um auf halbem Weg zwischen Pfadfinderethos und James-Bond-Glamour bei Bedarf jederzeit optimal mobil sein und flexibel reagieren zu können.
Andererseits spricht aus der Wahl seiner Mitarbeiter der ersten Stunde eine geradezu lupenrein konservative Haltung. Das Motto lautete: Eher keine Experimente! Nicht nur der stets englisch gekleidete und akribisch-pedantisch arbeitende Illustrator und inoffizielle Artdirector von Sioux während der ersten zwanzig Jahre, der preußische Böhme Hanns Erich Köhler, verkörperte einen Künstler vom Typus Antibohemien. Auch bei der Wahl der Druckerei und anderer künstlerischer „Zwischenmeister“ zählte für Peter Sapper solides Handwerk mindestens ebenso viel wie kreativer Schmiss.
So mag man es kaum als Zufall betrachten, dass neben Köhler noch zwei weitere Protagonisten mit Dienstleistungen für die Firma in Erscheinung traten, die heute längst keine Unbekannten mehr sind. Da ist zum einen der Stuttgarter Design- und Architekturfotograf Franz Lazi. Er fotografierte 1968 für die damals astronomische Summe von 10.000 Mark eine Serie von Sioux-Werbemotiven. Mit Unterbrechungen dauerte die lockere Zusammenarbeit bis in die späten 1980er-Jahre, kurz vor Lazis Tod.
Der zweite Künstler, den man nicht unterschlagen möchte, ist der Regisseur und Kameramann Michael Ballhaus. Als Peter Sapper ebenfalls um 1968 einen Fernsehspot für den Grashopper plante, vergab er diesen Auftrag an die bekannte „Insel Film“ in München. Der kleine Film wurde – ohne Tamtam, aber mit schönem Erfolg – unter der Regie des damals zugegebenermaßen noch vor seiner Karriere stehenden jungen Ballhaus verwirklicht.
Möglicherweise ist es auch diesem kreativ-hybriden Wertegefüge des Gründers zu danken, dass sich die Marke Sioux bis heute immer wieder verändern konnte, ohne sich grundsätzlich neu erfinden zu müssen, aber auch ohne sich im Beliebigen zu verlieren. Möglicherweise gerade die rechten Voraussetzungen, um weiter zu bestehen.
NIKE BREYER, geboren 1955, lebt als freie Autorin in Marburg an der Lahn