Almtraum einer Kuh

Pro7 schickt semiprominente Rindviecher auf „Die Alm“ und erzielt damit beste Quoten. An die echten Rindviecher aber denkt keiner (22.10 Uhr)

VON JOSEF WINKLER *

Jetzt schreien und johlen sie wieder. Seit Tagen dieses Geschrei und Gejohle, auch hier im Stall. Sie ist Zeit ihres Lebens ein Ausbund an Ausgeglichenheit gewesen, sie kennt sich gar nicht anders. Aber die letzten vier Tage haben sie verändert, und das verwirrt sie. Sie weiß gar nicht …

Es ist nicht so sehr das ständige Geschrei oder das grelle Licht und die Hektik der Kameraleute. Damit könnte sie umgehen, das könnte sie ausblenden. Es ist diese Präsenz, die wie ein fauler Geruch alles durchdringt um sie herum, seit Tagen, seit sie da sind. Diese Präsenz von Rohheit und Dummheit, Freudlosigkeit, Leere, Misstrauen und Geltungssucht. Diese Präsenz wie ein Verwesungshauch, der nicht mehr aus der Nase geht und übel, krank macht, sich aufs Gemüt legt und die Lebenskraft saugt. Sie fühlt sich schlecht, seit Tagen. Sie fühlt sich besudelt, ihr graust vor sich selbst, und das ist ein neues und schreckliches Gefühl.

Von einer Kollegin hat sie gehört, warum sie hier sind, und sie kann es immer noch kaum glauben: Um das, was sie hier tun, zu filmen, und dann schicken sie die Filme an ihre Artgenossen in deren Häusern, damit die sich an all der Rohheit, Dummheit und Verzweiflung, der Verschlagenheit und Freudlosigkeit und dem Selbsthass ergötzen. Sie versucht sich vorzustellen, was bloß mit den Zweibeinigen los ist.

Sie hatte ja keine Ahnung. Hassen sie sich selbst und ihr Leben und ihre Welt so sehr, dass sie Veranstaltungen wie diese brauchen, um sich nicht mehr so grausam vor sich selbst ekeln zu müssen? Oder – sie schluckt – ekeln sie sich so vor sich selbst, gerade weil sie solche Veranstaltungen brauchen? Sie fühlt Zorn und Mitleid in sich aufsteigen. Sie hat noch nie Zorn empfunden. Jetzt beflügelt die neue Regung einen kühnen Gedanken. Sie wird den Zweibeinigen helfen. Sie erlösen!

Sie hat dem Gejohle hinter sich entnommen, was jetzt kommt: Einer von ihnen wird – im Rahmen einer Spielaufgabe – versuchen, mit seinem Mund Milch direkt aus ihrer Zitze zu trinken. Sie könnte es aussehen lassen wie einen Unfall, eine schreckhafte Zuckung. Muss sie aber gar nicht. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie der zweibeinige Glatzkopf neben ihrer Flanke niederkauert. Sie schließt die Augen und stellt sich eine große Pferdebremse vor, die sich auf ihre rechte hintere Zitze setzt. Und tritt zu. Und tritt nach. Fühlt sich hart an, dann nachgiebig.

Das Gejohle ist verstummt. Mit einem Ruck reißt sie sich von ihrer Kette los und wirbelt herum. Die Idioten unterschätzen immer, wie schnell wir können, wenn wir wollen: „Und wir hassen es, wenn rumgeschrien wird, Klops“, brummt sie grimmig und nimmt den widerlichen Tanzlehrer auf die Hörner, Kameramann und der Boxer fliegen hinterher. Die Weibchen sind viel zu tollpatschig zur Flucht, sie streckt sie nieder, bevor sie die Stalltür erreichen.

Da steht ihr Bauer vor ihr, schreckensstarr; er, der sich und sie an diese Barbaren verkauft hat. Sie blickt ihn voller Verachtung an – was soll dieser belämmerte Seppelhut, den trägt er doch sonst nie? –, lässt ab von ihm und verfolgt dann den dicken Moderator den Hang hinunter, Techniker niedermähend; erledigt ihn und sein blondes Weibchen per Schubs über eine Klippe. Jetzt kommen Hubschrauber, sie wird eingefangen und alles geht sehr schnell. Eine Single mit Dieter Bohlen. Eine eigene Fernsehshow. Ihre Autobiografie „Ich war der Schrecken der Alm“ läuft großartig. Als sie sich neben Anke Engelke in den Stuhl fallen lässt …

Lautes Gejohle hinter sich im Stall schreckte die Kuh aus ihrem Dämmerschlaf. Beim Wiederkäuen döste sie gern. Aber seit ein paar Tagen waren sie da und schrien und johlten, als gäbe es einen Preis dafür. Schlaftrunken versuchte sie, die sich verflüchtigenden Schwaden eines Traumes zu fassen, aus dem sie gerade erwacht war. Ein wilder Traum. Ein guter Traum.

* Der Autor lebt als Journalist in München. Aus Liebe zur Kuh arbeitet er im Sommer regelmäßig als Senner auf einer Alm in Österreich.