: Das große Aufräumen
aus Johannesburg MARTINA SCHWIKOWSKI
Es ist ein schmaler Eingang, den die Stoffe indischer Händler und die Kräutermischungen afrikanischer Wunderheiler in der Häuserzeile offen lassen. Ausgetretene Stufen führen hinauf ins Obergeschoss, in ein Einzimmerlokal, in dem Lamettaketten, chinesische Laternen und falsche Früchte von der Decke baumeln. Es ist das Restaurant von Mr. Kapitan im Stadtkern von Johannesburg. Sein Vater hat es vor 89 Jahren eröffnet, er hat es übernommen, und während die Stadt in ihrem Wandel den einstigen Glanz verlor und immer mehr verwahrloste, hat sich hier nicht viel verändert.
Jeden Mittag kocht Madanjit Ranchod, genannt Kapitan, für seine Gäste. Der 77-Jährige hat Freunde in aller Welt – und sie fühlen sich zu Hause in dem winzigen Raum. Geschäftsleute aus den umliegenden Büros zwängen sich auf die einfachen Plastikstühle und genießen das kitschige Ambiente. Fischcurry köchelt in einem gusseisernen Topf vor sich hin. Der Küchenchef löffelt etwas Suppe auf einen Unterteller – eine Kostprobe des heutigen Spezialgerichts. „Gewürzt mit Ideen aus vielen Ländern“, sagt er.
Teller und Schüsseln stapeln sich in der kleinen Küchenzeile, die direkt zum Esszimmer übergeht. Verblichene Zeitungsartikel und gewellte Fotografien bepflastern die dunkelroten Wände und erzählen Lokalgeschichten. Er pflegt den Mythos seines Restaurants, vielleicht verbietet er deshalb das Fotografieren im Gastraum und auch er selbst will sich nicht fotografieren lassen.
Tatsächlich saßen schon berühmte Menschen bei Mr. Kapitan am Tisch. Die Namensliste scheint endlos, Filmstars und Politiker. Nelson Mandela kehrte täglich bei ihm ein, als er zu Beginn der 50er-Jahre um die Ecke seine Anwaltskanzlei eröffnet hatte. Dann wurde Mandelas ANC verboten, er selbst 1963 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Als das Restaurant 1989 einmal Probleme hatte, schrieb Mandela aus seiner Gefängniszelle, er bedaure, das Mr. Kapitan bald schließen müsse und seine Gerichte fortan vielen Genießern vorenthalten blieben. Aber der Wirt und seine Ehefrau Marjorie haben das Restaurant mit vereinten Kräften am Leben erhalten.
Als er nur ein Jahr später Nelson Mandela nach seiner Freilassung zu einem Willkommenstrunk begrüßte, begannen die ersten Firmen in den umliegenden Hochhäusern den Stadtkern zu verlassen und sich im Norden Johannesburgs hinter glitzernden Fassaden mit hohen Elektrozäunen anzusiedeln. In den Räumen, in denen einmal Mandelas Anwaltskanzlei arbeitete, lebten nun Heimatlose und Straßenkinder. Leer stehende Gebäude im Zentrum fanden illegale Bewohner, und mit dem Zuzug von Gewalt geriet die Innenstadt mehr und mehr in Verruf. Nur bei Mr. Kapitan gingen weiterhin alte und neue Stammkunden ein und aus. Vor seiner Tür waren die Straßen aber leer, wenn es Abend wurde, denn viele Menschen, die in Johannesburg arbeiten, fahren nach Feierabend zu ihren Wohnungen in die Schwarzensiedlung Soweto und die umliegenden Townships. 900.000 Pendler sollen es sein.
Das könnte sich ändern. „Jozi“, wie ihre Liebhaber die 3,2 Millionen Einwohner große Stadt nennen, soll sich langsam erholen. Ehrgeizige Planer wollen Johannesburg bis zum Jahr 2030 wieder zur Weltstadt aufpolieren. Einer von ihnen ist Yakoob Makda. Er leitet das Erneuerungsprogramm für die Innenstadt und hat sein Büro nur einige Häuserblocks von Mr. Kapitans Restaurant entfernt. Frühere Projekte sind an bürokratischen Ansätzen und Geldmangel gescheitert. Makda will mehr Erfolg haben, indem sich Geschäftsleute und die Verwaltung zusammentun. Sie sollen günstige Bedingungen für Investoren schaffen: Heruntergekommene Büroblocks werden günstig verkauft, dafür müssen die Käufer sie renovieren und sich um Mieter kümmern. „Private Investitionen und auch die Marktpreise steigen schon wieder“, sagt Yakoob Makda. „Was die Stadt dringend braucht, sind mehr Arbeitsplätze und Mietwohnungen.“
Die Planer haben in der ganzen Welt nach Ideen für den Wandel der Stadt gesucht – von Amerika, Argentinien bis Malaysia. Johannesburg habe sich mit dem Ende der Apartheid verändert und müsse sich dem neuen Charakter anpassen und einer vielfältigen Kultur annehmen, sagt Yakoob Makda. Die Herausforderungen für Investoren, Geschäftsleute, Arbeitnehmer, Verbraucher und Besucher seien enorm.
In seinem Restaurant glaubt Mr. Kapitan, dass sich diesmal sogar für ihn etwas ändern könnte. „Wenn mit dem Aufschwung neue Restaurants in die Nachbarschaft ziehen, bedeutet es auch für mich mehr Gäste“, sagt er. „Da muss ich auf meine alten Tage wohl noch anbauen.“ Sein Lieblingsgast kam auch kürzlich wieder in die Gegend, um die nach ihm benannte Nelson-Mandela-Brücke zu seinem 85. Geburtstag zu eröffnen. „Das hätte ich mir in all den Jahren nie träumen lassen: Eine Brücke, die beinahe auf direktem Wege zu meinem Restaurant führt.“
Die Stahlkonstruktion leitet Besucher aus dem Norden direkt nach Newtown nur einen Steinwurf von Mr. Kapitans Lokal entfernt. Musikveranstaltungen und vereinzelte Cafés beleben schon den historischen Mary-Fitzgerald-Platz, der früher nur von wenigen Mutigen besucht wurde, die in dem einst legendären Jazzclub Kippies oder im berühmten Market Theatre einen Abend verbringen wollten. Inzwischen dienen sogar verlassene Industriegebäude dort als Bühne für Festivals.
In der Nachbarschaft durchkämmen frühmorgens von der Stadtverwaltung beauftragte Räumkommandos einer Sicherheitsfirma die Straßen. Sie heißen „Rote Ameisen“, und Bürgerrechtsgruppen haben ihnen schon mehrfach vorgeworfen, brutal vorzugehen. In Kooperation mit der Polizei, Gesundheitsamt und Sozialarbeitern setzen die Trupps Hausbesetzer, die Ärmsten der Armen, auf die Straße.
Viertausend fliegende Händler bieten jetzt in einer neuen Markthalle ihre Waren an. Und das Transportsystem soll verbessert werden, denn öffentliche Busse verkehren kaum in der Stadt. Heute leben rund 220.000 Einwohner im Stadtkern, in fünf Jahren sollen es doppelt so viele sein.
Die Kriminalität ist allerdings immer noch ein Hindernis für Investoren. 200 Überwachungskameras wurden installiert, und die Stadplaner sagen stolz, an Brennpunkten hätten sie zur Verringerung von Überfällen beigetragen.
„Die sollen nur durchgreifen, sonst hat der ganze Plan keinen Zweck“, sagt Mr. Kapitan, der seit 5.30 Uhr in der Kort Street sein Lokal zum Mittagstisch vorbereitet. „Ich würde gern wieder die Börsenmakler zu Gast haben.“ Die Börse war ebenfalls vor wenigen Jahren weggezogen. Aber heute hat die Tochter des Diamantenimperiums De Beers, Mary Oppenheimer, mal wieder zum Lunch gebucht.
Marjorie Kapitan stellt die abgenutzten Speisekarten auf die Tischdecken mit Melonendruck. Die Gäste mögen ihren rauhen Charme und frechen Witz. Manchmal hat die 68 Jahre alte Frau Heimweh: „Mein Mann hat mich aus Brasilien hierher entführt.“ Der Alte schmunzelt und zupft an seinem grauen Schnurrbart: „Ja, brasilianische Frauen … Marge habe ich beim Karneval in Rio kennengelernt.“ Mr. Kapitan pafft genüsslich eine Zigarre und schwelgt in seinen Geschichten, die er von Reisen mitgebracht hat. Hin und wieder gönnt er sich eine aus seiner Zigarrensammlung, die er im Schrank unter Verschluss und mit Äpfeln frisch hält. „Kubanische Rauchware, Havanna, Bolivar … Fidel Castro habe ich übrigens auch getroffen, bei Mandelas Amtseinführung“, fällt ihm ein.
Seine Familiengeschichte geht weit zurück: Mr. Kapitans Urgroßvater landete im vergangenen Jahrhundert, 1887, von den Fidji-Inseln kommend an der Westküste in Durban und eröffnete ein Lokal mit dem geborgten Seefahrernamen „Kapitan“. Sein Vater, von dem er das Kochen später erlernte, verließ dort 1914 die indische Gemeinde und übernahm das heutige Restaurant in Johannesburg. Zu der Zeit war die Stadt durch den Goldrausch bereits zu Ruhm gelangt.
In Rente gehen wollen die Kapitans noch lange nicht. „Es geht so rauf und runter im Leben. Doch das hier ist mein Zuhause“, sagt er. Aber während Jozi vielleicht bald wieder blüht, ist die Zukunft des kleinen Lokals in der Großstadt ungewiss. Kapitans Kinder haben andere Ideen. Sie leben nicht alle in Südafrika, sondern auch in Südamerika und Europa. Ein Sohn ist Musiklehrer, einer Ingenieur. Koch wurde keiner.