Fragen im Großformat

Das Hamburger Museum für Arbeit zeigt in der Sonderausstellung „Architektur der Obdachlosigkeit“ die Fotodokumentationen von acht international arbeitenden FotografInnen, die sich mit den Lebensumständen von Obdachlosen beschäftigt haben

Ein paar Schläppchen werden zu Siglen des jederzeit möglichen Umkippens der Normalität in den Ausnahmezustand

von Petra Schellen

Ein bisschen wirkt es, als profiliere er sich auf Kosten seiner Modelle. Setze dem westeuropäischen Betrachter – getarnt als Doku – exakt das Klischee vor, das der heimlich zu finden wünscht: Schon bei der Münchner Station der Schau Architektur der Obdachlosigkeit, die derzeit im Hamburger Museum der Arbeit zu sehen ist, waren sie umstritten, die Fotos des Ukrainers Boris Mikhailov. Wobei sich die Kritik nicht einmal zentral auf die Inhalte richtet: Denn selbstverständlich ist das Schockieren der Betrachterschaft durch Ablichtung von Elend, Krankheit legitim, vielleicht auch – so der Fotograf in einem Interview – nötig, um Aufmerksamkeit zu erzielen.

Enormes Unwohlsein erzeugt allerdings die Tatsache, dass der Fotograf nicht nur im Begriff ist, für seine sozialkritischen Serien etliche Preise einzusammeln, sondern dass er auch durch eigenartige Interaktionen an seine Motive kommt: Gegen Geld lässt er Obdachlose im ukrainischen Charkov posieren, animiert sie, Körperausschlag und Nacktheit zu zeigen. Und auch wenn Mikhailov beteuert, dass seine Protagonisten nie Dinge gegen ihren Willen tun würden, trägt dies doch Züge eines zynischen Spiels: Bedeutet es nicht die Fortsetzung des vorgeblich kritisierten globalen Kapitalismus, den Elenden für ein paar Rubel ihre Würde abzukaufen, damit sich der wohlhabende Westen daran delektieren kann? Ist es zwingend, ist es förderlich, die Armen als Opfer – von Geld-, Nahrungs-, Hygienemangel – zu präsentieren und mit dem Finger auf ein System zu weisen, das man letztlich selbst unterstützt? Oder möchte Mikhailov die Pose als Mittel der Brechung verstanden wissen?

Eine arg wohlwollende Perspektive müsste bemühen, wer den Fotografen und seine Modelle als verschworenes Team betrachtete, das – gerade aufgrund der Stilisierung – eher verbirgt als offenbart und nebenbei allen Beteiligten ein Quentchen Profit beschert. Und natürlich könnte man Mikhailovs Methode ebenso gut als „Aneignung“ anstatt als Anpassung an westliche Sehgewohnheiten definieren. Doch um diese Nuancen weiß der Fotograf allein.

Unmöglich jedenfalls, dies suggeriert die gesamte Ausstellung, sich dem Thema anders als wahlweise plakativ oder ästhetisierend zu nähern; allein das Symbolfoto führt sekundenweise über die Hilflosigkeit jeden Fotografierens hinweg: Als werde er vom sorgsam ins Foto hineinkomponierten Fluchtpunkt eingesogen, als stolpere er direkt hinein in die Gravitation, wirkt ein Obdachloser auf Wolfgang Tillmans Foto „anti-homeless device“, in das man, auf riesigem Bürgersteig wandelnd, direkt hineingehen könnte. Ambivalent sind dabei die Assoziationen: Der Mann bewegt sich zum Fluchtpunkt hin, stolpert und strauchelt in ihn hinein – und offenbart gerade dadurch, dass Flucht aus seiner Situation kaum möglich ist.

Aber vielleicht schläft er ja nur, denkt der konfliktscheue Betrachter – und hat prompt wieder an einem der gravierendsten Probleme vorbeigeschielt: Könnte er nur schlafen, der Mann dort auf der Straße, dann wäre ihm schon geholfen, aber – die Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt zitierte es jüngst – als Obdachloser bekommt man nicht viel Schlaf: Sie sind in Großstädte architektonisch einfach nicht eingeplant, solche Orte, Randexistenzen nicht vorgesehen in Bebauungsplänen adretter Normalität.

Hinter Ecken, in Keller-, Zwischen- und Untergeschossen Japans, Hongkongs und Thailands haben Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch, bewusst als Duo auftretend, Obdachlose fotografiert und subtile Folter gefunden, wo sie Improvisation vermuteten: Oder ist es ein Zufall, dass ein Parkhaus ausgerechnet den einzigen als Schlafplatz geeigneten Podest die ganze Nacht lang grell beleuchtet, sodass der Schläfer das Gesicht mit mehreren Lagen Zeitungen bedecken muss? Ein wenig erinnert dies an die „Penner-Dusche“ genannten Düsen, mit denen manche Hamburger Kaufhäuser nächtens ihre Eingänge unter Wasser setzen, um Obdachlose am Da-Bleiben zu hindern.

In Bangkok wiederum haben Myrzik und Jarisch einen schutzlos zwischen Säulen einer Beton-Ruine Liegenden fotografiert; ringsums wuchert üppig Grün. Die Plane eines anderen hat exakt denselben Teint wie die darüber liegende Autobahnbrücke, als wolle die Gesellschaft sagen: Recht so, wir haben dich – fast – nicht gesehen. Ein paar Schläppchen hat dagegen ein Tokyoter Obdachloser vor seinem improvisierten Schlafkarton abgestellt. Details, die stark wirken, weil sie die Siglen des jederzeit möglichen Umkippens der Normalität in den Ausnahmezustand sind.

Wie weit stilisierende Ästhetik diese Wahrnehmung verstärkt, wäre auszuloten; jedenfalls hängen sie sperrig da, Wolfgang Bellwinkels Fotos von Schlafunterlagen Obdachloser, in schonungsloser Originalgröße abgebildet und sekundenlang Plastizität suggerierend. Doch – ein Schritt näher offenbart es – es sind nur Fotos. „Bundes-Eigentum“ steht auf der schmalsten der Matten; bezeichnendes Beispiel für einen Allmende-Begriff, der weit hinter den des Mittelalters zurückfällt: Wer sollte dies stehlen wollen? Und wem eigentlich, wenn doch der Benutzer im bundeseigenen öffentlichen Raum sich aufhält? Ist diese Bürokratie schon so paranoid, dass sie nicht mal den Ärmsten eine harmlose Iso-Matte schenken kann?

Gesamtgesellschaftliche Fragen, die in Extremformat John Vinks Serie über Landlose in Kambodscha und Dayanita Singhs Reportage über einen indischen Eunuchen stellen, der auf einem Friedhof lebt. Wichtige Serien, die der von der Münchner Straßenzeitung BISS organisierten Wanderausstellung zwar Internationalität verleihen. Die aber andererseits als Ingredienzien heikel sind, weil sie dem europäischen Betrachter seine beliebteste Flucht erlauben: zu denken, das wirkliche Elend sei doch so schrecklich weit weg.

Architektur der Obdachlosigkeit – BISS zu Gast im Museum der Arbeit, Hamburg; Geöffnet Mo 13–21, Di–Sa 10–17, So 10-18 Uhr; bis 29.8.