: Der Traum der Königin gebiert Ungeheuer
Marc von Henning hat am Stuttgarter Schauspielhaus „Richard III.“ inszeniert – und er sieht dabei ausgerechnet Shakespeares abgefeimtesten Schurken als eine Frau
Richard schmeichelt, überredet und intrigiert mit sanfter Stimme. Seine wohl gerundeten Formen hüllt eine Kostümjacke aus Schlangenlederimitat ein, von Missbildung oder abstoßender Hässlichkeit keine Spur. In der Inszenierung des Dramas von William Shakespeare, die Marc von Henning für das Staatsschauspiel Stuttgart besorgt hat, ist Richard III. eine Frau. Den zögerlichen Hamlet hat bereits Peter Zadek weiblich besetzt. In den ersten Jahren von Friedrich Schirmers Stuttgarter Intendanz spielte Anne Tismer den unsicheren jungen König Richard II.
Aber ausgerechnet Shakespeares abgefeimtesten Schurken in femininer Gestalt auftreten zu lassen – kann das gut gehen? Es geht gut, weil der Regisseur ein überzeugendes Konzept hat und weil Irene Kugler diesen Richard, der für die Königskrone über Leichen geht, so glaubhaft und selbstverständlich verkörpert. In Marc von Hennings Interpretation fühlt sich die Titelfigur von der Natur nicht um das einnehmende Äußere betrogen, sondern benachteiligt aufgrund des falschen Geschlechts, „kastriert um die schöne Verlängerung der Macht“, wie von Henning Richard im Auftaktmonolog sagen lässt. Für diese Deutung kann der Regisseur Schützenhilfe vonseiten der Psychoanalyse anführen. Schon Sigmund Freud zog Parallelen zwischen Shakespeares Helden und der weiblichen Psyche.
Richard als Frau zu zeigen nötigt dem als Autor, Regisseur und Übersetzer (unter anderem von Heiner-Müller-Texten) in London lebenden Deutsch-Engländer einige inhaltliche Veränderungen der Textvorlage ab. Im Wesentlichen bleibt Marc von Henning aber erstaunlich nahe an Shakespeares Original, obwohl er das ausufernde Schlachten- und Intrigenspiel strafft und die Anzahl der auftretenden Personen auf 15 reduziert. Wie bereits in seiner Macbeth-Inszenierung für das Stuttgarter Schauspiel im letzten Jahr erzählt der eigentlich für seine poetisch-versponnenen Theaterabende bekannte Regisseur das Stück als düsteren Endzeitthriller, angesiedelt in der Gegenwart.
Der für Raum und Kostüme verantwortlich zeichnende Herbert Murauer hat eine zweigeschossige Wohnstatt auf der Bühne des Schauspielhauses eingerichtet. Das Untergeschoss erinnert an eine düstere, unwirtliche Tiefgarage. Im oberen Stock schenken sich die Protagonisten an der Hausbar kräftig ein oder fläzen sich auf schäbigen Ledersofas.
Fast wie in einem Breitwandmovie läuft die Geschichte ab, untermalt von Till Löfflers Musik, die ihrerseits an einen Filmsoundtrack erinnert. Der Auftragskiller (Philipp Otto gibt ihn als magenkranken, servilen Dienstleister mit Aktentasche) verrichtet seinen Job nur gegen Cash. Richards Gegenspieler, die er respektive sie nach und nach beseitigen lässt, verenden filmreif in drastischen Zuckungen und blutverschmiert. Anders als in seiner Macbeth-Adaption weckt der Regisseur weniger Assoziationen zur Mafiawelt der TV-„Sopranos“. Es sind die nur auf ihren Vorteil bedachten Machtpolitiker und Finanzhaie von heute, eine saturierte Upperclass ohne Skrupel und Moral, die Henning vorführt.
Trotz der starken Bezüge zum Kino bleibt die Inszenierung von Marc von Henning immer Theater, versucht er nicht auf der Bühne zu imitieren, was der Film besser kann. Das großartig agierende Ensemble trägt viel zum Gelingen des Theaterabends bei. Die Traumebene, das Unbewusste, auch bei William Shakespeare ein wesentlicher Bestandteil des Stücks, gewinnt durch die konzentrierte Fassung und die Bühnendarstellung zusätzliche Brisanz.
Der Schlaf gebiert Ungeheuer, wenn vor Richards innerem Auge die ermordeten Kontrahenten vorüberziehen. Die Königin ist am Ende aller Gegenspieler ledig, aber auch ohne ein menschliches Gegenüber. Die Einsamkeit des von allen Ordnungen losgelösten, nur sich selbst liebenden Individuums, das Shakespeare in „Richard III.“ nicht zuletzt zeigt, kristallisiert sich in dieser Lesart deutlicher heraus. Dieser Richard in Frauengestalt rückt uns noch näher, als das Shakespeares stets mit dem Publikum paktierende Figur sowieso tut, weil wir nicht nur den hässlichen, von Grund auf bösen Menschen sehen.
Richard findet in der Stuttgarter Inszenierung ihr Ende nicht von Richmonds Hand, sondern durch die der Mutter. Der Sieger, eben Richmond, spricht im Epilog emotionslos und pragmatisch davon, dass man künftig nicht alles anders, aber vieles besser machen will. Das hat man aus manchem Politikermund in diesen Tagen so oder ähnlich lautend auch schon gehört.
CLAUDIA GASS