Theorie – alles aus?

In seinem neuen Buch „After Theory“ verabschiedet der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton die französischen Theorieschulen als veraltet. Seine guten Gründe hindern ihn aber nicht, selbst eine neue Metaphysik zu errichten

Die meisten ihrer Protagonisten sind lange tot: Ist „Theory“ noch zeitgemäß?

VON MARCO STAHLHUT

„Theory“ („with a capital ‚T‘ “) entspricht im angloamerikanischen Sprachraum ungefähr dem, was man bei uns mit „die Franzosen“ meint. Es gab einmal eine Zeit, da war „Theory“ so etwas wie eine Fusion aus Philosophie und Pop: hip, starzentriert und irgendwie subversiv. Hip, weil es sich um eine akademische Mode handelte. Starzentriert, weil es noch am einfachsten war, das „Theory“-Phänomen über Namen zu charakterisieren – statt über Inhalte. Franzosen wie Roland Barthes, Julia Kristeva und Michel Foucault; in Amerika lehrende Franzosen ehrenhalber wie Paul de Man, Edward Said und Judith Butler. Man kann das Gleiche auch deutlicher sagen und kritisieren, dass im Theoriediskurs „Autor-Namen an die Stelle rationaler Begründungen“ (Heinrich Detering) traten.

Subversiv, weil diese Theorien entweder politische Implikationen hatten oder sich explizit politischen Fragen zuwandten. Selbst eine auf den ersten Blick so politikferne Philosophie wie die Dekonstruktion Jacques Derridas konnte in dieser Hinsicht Furore machen. In osteuropäischen Intellektuellenzirkeln war sie in den Achtzigern der letzte Schrei. Derrida selbst wurde in Prag verhaftet: Er hatte Dissidenten unterstützt. Die Konservativen im Westen wiederum sahen durch Differenzphilosophie oder Lacan’sche Psychoanalyse die universitäre Vermittlung abendländischer Werte bedroht. Auf amerikanischen Universitäten wurden Flugblätter verteilt, auf denen vor dem verderblichen Einfluss der Dekonstruktion gewarnt wurde. Man muss nicht zynisch sein, um darin rückblickend schöne Zeiten für die Hochtheorie zu sehen: Bei Nomenklatura und Establishment gleichermaßen verhasst – besser konnte es hinsichtlich Campus-Credibility vor 1989 gar nicht laufen.

Die politischen Implikationen von „Theory“ wurden vor allem in den USA explizit ausgearbeitet. Heraus kam neben anderem mit Judith Butler auch eine kühne Version des Feminismus. Überraschenderweise beruhte sie darauf, dass es Frauen gar nicht gibt. Machte aber nichts, Männer nämlich auch nicht. Und so gesehen hatte auch dieser Feminismus etwas mit Gleichberechtigung zu tun. Theorie wurde von einer Anregung zum Denken zu einem Ersatz fürs Forschen.

Eine Zeit lang sah es freilich so aus, als würde die Hochtheorie auch noch ins Zeitalter der Globalisierungskritik gerettet. Das Buch „Empire“ von Michael Hardt und Toni Negri formulierte mit großem Publikumserfolg eine Fusion aus Foucault und Marx, gewissermaßen eine „französische“ Übersetzung des Marxismus für das 21. Jahrhundert. Aber jetzt – alles aus?

Das scheint jedenfalls der Titel von Terry Eagletons „After Theory“ zu besagen. Eagleton ist nicht irgendwer. Seine „Einführung in die Literaturtheorie“ gilt als der literaturwissenschaftliche Bestseller überhaupt. Sie prägte Generationen vor allem angloamerikanischer Studenten und trug damit zur Verbreitung des Theoriediskurses bei wie wenig andere Schriften. Eagletons „After Theory“ beginnt mit einer Diagnose, die so einleuchtend ist, wie sie zum Nachdenken anregt: Die Hauptwerke der Theoretiker, auf die sich in den Kulturwissenschaften nach wie vor bezogen wird, seien inzwischen jahrzehntealt. Viele der Theoretiker tot, von Lacan über Althusser bis zu Roland Barthes und Michel Foucault. Und obwohl laut Eagleton das Hochtheorieprojekt nicht von vornherein fehlgeleitet war, habe sich die Welt seit den ersten Schriften von Lacan und Foucault doch gehörig geändert. Ist „Theory“ also überhaupt noch zeitgemäß?

So wie Eagleton argumentiert, muss sich jede Theorie mit politischen Absichten heute daran messen lassen, wie sie mit dem Problem des modernen Fundamentalismus umgeht: dem islamistischen Terrorismus wie dem einer christlich-konservativen US-Regierung. Dank ihrer geradezu obsessiven Beschäftigung mit Fragen der „Konstruktion“ von Identität und Andersheit scheint „Theory“ zunächst einmal bestens gerüstet für eine Zeit kultureller und politischer Konflikte. Doch wie Eagleton schreibt: „Andersheit ist nicht das fruchtbarste intellektuelle Problem. Wenn man einmal beobachtet hat, dass der Andere typischerweise als faul, schmutzig, dumm, listig, weiblich, passiv, aufsässig, sexuell unersättlich, kindlich, rätselhaft und mit einer Anzahl weiterer sich ausschließender Attribute beschrieben wird, ist schwer zu wissen, was man als Nächstes tun sollte, außer nach einer weiteren textuellen Illustration dieses Fakts zu greifen. Das Thema ist politisch so drängend wie theoretisch unergiebig.“

Tatsächlich kann Eagletons Diagnose, politisch so drängend wie theoretisch unergiebig, auf fast alle Themen übertragen werden, die die politisch motivierte Theorie von Foucault bis Butler angesprochen hat. Deutlichstes Symptom hierfür sind die radikalisierenden Überbietungsstrategien, denen sie sich so gerne hingab, in denen sie sich aber auch oft genug erschöpfte. Sie liefen am Ende immer darauf hinaus, dass es den von ihnen thematisierten Gegenstand – die Sexualität, die Frau, die orientalische Kultur – nicht gibt. Dass er nur Diskurseffekt, nur böses Spiegelbild des weißen, europäischen Mannes sei. Die entscheidenden politischen Fragen werden damit freilich nicht beantwortet: wer, wann, warum und wie zum „Anderen“, zum minderwertigen Gegenüber gemacht wird.

Politisch so drängend wie theoretisch unergiebig zu sein – das gilt aber nicht nur für die Obsessionen der „Theory“, sondern auch für die philosophischen Überlegungen, die Terry Eagleton in der zweiten Hälfte von „After Theory“ entwickelt. Er versucht nichts anderes, als den neuen Fundamentalismus metaphysisch zu deuten. Fundamentalisten fürchteten sich vor dem Nichtsein, vor der bedeutungslosen Masse der Realität. Und sie sehnten das Nichtsein herbei, weil der Tod die ultimative Reinheit sei, zu keiner Fehlinterpretation mehr fähig. Dagegen gelte es, so Eagleton, eine neue politische Ordnung zu setzen, die auf Nichtsein in einem anderem Sinne, dem der menschlichen Zerbrechlichkeit und Fundamentlosigkeit, beruhe.

Aber den Einfluss von Ideen zu überschätzen ist die Form von Beschränktheit, der besonders Intellektuelle gerne verfallen. Eagletons Konzentration auf unterschiedliche Konzepte des Nichtseins verschließt die eigentlich politische Dimension hinter dem islamistischen Terror und dem Bush-Kreuzzug gegen das Böse. Denn so wenig wie die Gründungstexte religiöser Traditionen bieten metaphysische Überzeugungen eindeutige Hinweise für politisches Handeln. Für die Praxis kann man aus ihnen im Zweifelsfall vieles und sein Gegenteil folgern.

Wie sehr Eagleton hier alles durcheinander gerät, erkennt man daran, dass er Schopenhauer, der nun wirklich alles war, aber nicht links, zum Kronzeugen linker Positionen macht. Am Ende sei „die wirklich zählende Scheidelinie die zwischen Menschen, die mit Schopenhauer übereinstimmen, dass es für die meisten Leute wahrscheinlich am besten gewesen wäre, wenn sie nie geboren worden wären, und denjenigen, die das für eine linke Übertreibung halten“. Doch wie alle groß angelegten Überzeugungen kann auch die vom elendigen Leben der meisten Menschen auf dieser Erde zu allen möglichen praktischen Schlussfolgerungen führen: vom Kampf gegen die Armut bis zur Zwangssterilisation für die Dritte Welt oder Massenmord in der Ersten. Dass diese Überzeugung notwendig „links“ oder „rechts“ sei, ist absurd.

Besonders unangenehm wird Eagletons neue Metaphysik dort, wo es um die Vereinigten Staaten geht. Amerikaner seien ein zwanghaft optimistisches Volk, unverbesserlich dem Willen im Schopenhauer’schen Sinne verfallen: „Was unsterblich ist in den Vereinigten Staaten, was sich weigert, sich hinzulegen und zu sterben, ist der Wille.“ Wohlgemerkt, Eagleton schreibt nicht über die konkrete Politik einer bestimmten Regierung oder das Geschäftsgebaren kapitalistischer Firmen, sondern über „den Willen“ in „den“ Vereinigten Staaten. Konsequenterweise landet er bei einem metaphysisch aufgeblähten Antiamerikanismus.

Dass allerdings ein so kluger Mann wie Terry Eagleton, und ein historischer Materialist noch dazu, auf die Idee kommt, die Völkerpsychologie neu aufzumöbeln, erstaunt doch. Wäre es nicht das gegenläufige Resultat des rein theoretischen Zugriffs auf politische Fragen, der auch zum postmodernen Antiessenzialismus führte, mit seiner endlosen Litanei des „das gibt es nicht“. (L’Américain n’existe pas müsste man in seinem Sinne sagen.)

Dabei müsste die wichtigste theoretische Leistung heute darin bestehen, die begrenzte Reichweite der Mittel reiner Reflexion einzusehen. Einzusehen, dass die Erforschung der sozioökonomischen und psychischen Dynamiken, die den Fundamentalismus begünstigen, eine Arbeit ist, die nicht am Schreibtisch erledigt werden kann; mit nichts bewaffnet als „dem Papier und dem Bleistift“ (Pierre Bourdieu) respektive dem Computer und dem Textverarbeitungsprogramm. Zeit also, „Theory“, „die Franzosen“ in einem grundsätzlicheren Sinne als dem von Terry Eagleton gemeinten hinter sich zu lassen.

Terry Eagleton: „After Theory“. London Allan Lane 2003, 225 Seiten, 31 €. Eine Taschenbuchausgabe erscheint im August bei Penguin