Seine Ohnmacht ist Dynamit

„Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne“ ist ein lesenswerter Sammelband mit zeitgenössischen Texten über Charlie Chaplin, die Angst vor den laufenden Bildern und den Eigenwillen der Dinge

von CRISTINA NORD

Wer sich mit Charlie Chaplin beschäftigt, wird zwangsläufig darüber nachdenken, was Komik ist und wie sie wirkt. Schließlich lacht die ganze Welt über Chaplins Filme – „und dass der Mars noch nicht über ihn gelacht hat, liegt nur an der mangelhaften Verbindung zu diesem kinolosen Möbel“, wie Kurt Tucholsky 1926 notierte.

Der Tübinger Germanistin Dorothee Kimmich ist es zu verdanken, dass sich nun ein ganzer Sammelband auf die Spur von Chaplins Komik begibt. Der Reiz von „Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne“ liegt darin, dass die Herausgeberin vornehmlich Texte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammengestellt hat.

Über Chaplin äußern sich Intellektuelle, Filmtheoretiker und Regisseure, unter ihnen Walter Benjamin, Sergej Eisenstein, Theoder W. Adorno, Hannah Arendt, Béla Balázs oder André Bazin. Anstelle filmpublizistischer Fachsimpeleien stellt das Buch so eine Reflexion der jungen Kunst des Kinos dar. Und weil Chaplin als Kind seiner Zeit betrachtet wird, liegt es nahe, dass in den einzelnen Beiträgen etwas mitschwingt von den Zeitphänomenen: vom Wachstum der Städte, von der Mechanisierung des Alltags, von der allgemeinen Beschleunigung und schließlich von der Veränderung und Erweiterung der Wahrnehmung durch neue Dispositive.

Der französische Filmkritiker Philippe Soupault zum Beispiel schrieb: „Unsere Wahrnehmung ist heute, 1928, vom Kino geprägt, um nicht zu sagen dominiert. Es bleibt nicht ohne Folge, dass wir regelmäßig Filmvorführungen besuchen, darüber diskutieren, dass wir sie lieben oder hassen, in einem Wort, dass wir reagieren.“

Manchem machte genau dies Angst. Franz Kafka etwa, dem neuen Medium eigentlich wohl gesinnt, berichtet in einem von Gustav Janouch aufgezeichneten Gespräch: „Es [das Kino] ist zwar ein großartiges Spielzeug. Ich vertrage es aber nicht, weil ich zu ‚optisch‘ veranlagt bin. Ich bin ein Augenmensch. Das Kino aber stört das Schauen. Die Raschheit der Bewegungen und der schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen. Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blicks.“ Soupault wiederum gerät ins Schwärmen, weil das Kino, „das grausame und wunderbare Auge von heute“, Aspekte des Lebens sichtbar macht, die das Menschenauge wahrzunehmen nicht imstande ist.

Und die Komik? Die liegt zum einen darin, dass Chaplin in einer verdinglichten Welt ein recht eigenes Verhältnis zu den Dingen pflegt. Dienen die Gegenstände dem normalen Menschen zu einem bestimmten Zweck, so kann man sicher sein, dass etwas schief geht, sobald Chaplin sie in der vorgesehenen Weise benutzen will. Nimmt er einen Schraubenschlüssel zur Hand, wird sich das Werkzeug rasch weigern, Schrauben festzuziehen; es wird stattdessen nach Knöpfen auf der Bluse einer Frau suchen und sich daran austoben, ohne dass Chaplin etwas dagegen unternehmen könnte. „… die Dinge selbst wehren sich gegen das Benutztwerden, fast als täten sie das mit Absicht“, schreibt André Bazin in diesem Zusammenhang. „Umgekehrt aber benutzt Charlie die Dinge, die ihm ihren Dienst in der uns gewohnten Weise verweigern, zu viel besseren Zwecken, denn er passt sie den vielfältigen Notwendigkeiten an, die ihm aus der jeweiligen Situation erwachsen.“ Die Schuhsohle, die Nägel und die Schnürsenkel aus „Der Goldrausch (1925) sind ein Festmahl, solange Chaplin sie so zubereitet. Und wer kein goldenes Zigarettenetui sein Eigen nennt, der kann – wie in „The Kid“ (1920) – die Dienste einer Sardinenbüchse in Anspruch nehmen.

So wie Chaplin mit den gewöhnlichen Funktionen der Dinge hadert, so hadert er insgesamt mit der ihn umgebenden Welt. Er ist ein Fremdkörper, einer, der nicht dazugehört, ein Paria. „Chaplin bewegt sich in einer grotesk übertriebenen, aber wirklichen Welt“, schreibt Hannah Arendt, „vor deren Feindschaft ihn weder Natur noch Kunst schützen, sondern nur die selbst ersonnenen Listen und manchmal die unerwartete Güte und Menschlichkeit eines zufällig Vorübergehenden.“

Diese Rolle reflektieren auch andere Autoren, Siegfried Kracauer beispielsweise, Béla Balázs oder Henri Lefèbvre. Sie kommen darin überein, dass Chaplin als Außenseiter nie hilflos oder verloren ist, sondern immer so vif, die jeweiligen Bedrohungen abzuwenden. Und zwar noch dann, wenn er als Tramp unter Goldgräbern mit Stock und Hut denkbar schlecht gerüstet ist für die Unbilden Alaskas.

Oder wenn er, als Fabrikarbeiter in „Modern Times“ (1936), die neu entwickelte lunch machine durch seine Unbeholfenheit so erschüttert, dass sie sich von selbst zerstört. Man kennt dies von dem Folterapparat in Franz Kafkas „In der Strafkolonie“: Die Maschine reagiert wie ein der Hyperkinese verfallener Körper. Damit wiederum greift sie eine von Chaplins Eigenheiten auf: André Bazin zufolge zieht sich Chaplin nämlich bisweilen einen „mechanischen Krampf“ zu. Er wiederholt dann wie besinnungslos eine Bewegung, die sich in einer bestimmten Situation bewährt haben mag, nun aber, da die Situation sich geändert hat, obsolet geworden ist.

Trotzdem ist Chaplin ein moderner David, listig, agil, zu jeder Mimikry entschlossen, „der Schwache, der nicht unterliegt“, wie Béla Balázs es formuliert. Wenn er die Priester und Polizisten nachahmt, um sich vor ihrem Zugriff in Sicherheit zu bringen, dann weiß man, wie wenig Respekt er den Repräsentanten von Recht und Ordnung zollt. Siegfried Kracauer schreibt: „Seine Ohnmacht ist Dynamit, seine Komik bezwingt die Lacher und erweckt mehr als Rührung, denn sie rührt an den Bestand unserer Welt.“ Dass sich darauf ein so großes Publikum hat einigen können, ist ein wunderbares Antidot gegen jede Art von Kulturpessimismus.

Dorothee Kimmich (Hg.): „Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne“. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003, 236 Seiten, 10 €