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Archiv-Artikel

Keiner betritt das Zimmer des anderen

Übertrifft alle Vorstellungen: Wie kompliziert es ist, in St. Petersburg Gemeinschaftseigentum in Privatbesitz zu verwandeln, das zeigt „pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung“, eine Dokumentation von Christiane Büchner

Nach der Pressevorführung stöhnt eine Filmjournalistin erleichtert auf: „Zum Glück kann ich jetzt ganz einfach nach Hause in meine Mietwohnung gehen.“ „pereSTROIKA– umBAU einer Wohnung“ von Christiane Büchner zeigt, dass Wohnen in Russland ganz schön kompliziert sein kann: Etwa 700.000 Menschen leben immer noch in den „Kommunalkas“, einst staatlichen Kommunalwohnungen, die nach dem Ende der Sowjetunion Zimmer für Zimmer den jeweiligen BewohnerInnen geschenkt wurden. Kaum jemand hatte sich wirklich ausgesucht, in so einer Wohnung zu wohnen, oft galt sie als Zwischenlösung in der virtuellen Warteschlange für etwas Größeres, Besseres, Familiengeeigneteres. Es sind Wohnungen, in denen das Klopapier und die Glühbirnen den verschiedenen Zimmerbesitzern gehören, die akribisch über ihre Bereiche wachen, Wohnungen, in denen Vorgänge wie Kochen und Wäschewaschen ein komplexes Regelwerk erfordern, in denen ganze Familien in einem Zimmer wohnen, in denen Menschen festsitzen, die sich möglicherweise nicht riechen können, in denen eine Klingel und ein Briefkasten von allen geteilt werden und düstere Gänge mit verschlossenen Schränken kaum noch ahnen lassen, wie die Wohnung geschnitten ist. Und in denen es dauernd um Eigentum und Abgrenzung, um Gerechtigkeit und Vertrauen geht, denn man sitzt, gelinde gesagt, recht nah beieinander.

Die Regisseurin sagt: „In dieser Wohnung hat jedes Zimmer einen anderen Besitzer. Obwohl sie gemeinsam in einer Wohnung leben, war keiner je im Zimmer des anderen.“ Autoren wie Tolstoi und Bulgakow, Chmelev, Ilf und Petrow haben über die Kommunalkas geschrieben, der Künstler Ilya Kabakov hat Arbeiten darüber gemacht und ein Buch mit Beschwerdebriefen veröffentlicht. Und ebenso hat der russische Soziologe Ilja Utechin diese ganz besondere Privatsphäre erforscht, und die französische Journalistin Paola Messane schildert anhand der Kommunalkas eine Geschichte der Sowjetunion.

Die Filetstücke – in St. Petersburg waren es die alten Adelswohnungen an der Newa oder die früher so unbeliebten feuchten Parterrewohnungen, die aber nun für Geschäftsräume gut geeignet sind – haben die Verwandlung des Gemeinschaftseigentums in Privatbesitz schon längst hinter sich. Es ist ziemlich kompliziert: Um eine gesamte Wohnung zu verkaufen, müssen alle etwas finden, das möglichst auch eine Verbesserung bedeutet, und gleichzeitig ausziehen, das heißt, für den Verkauf müssen die Makler den BewohnerInnen neue Wohnungen vorschlagen, anzahlen und beschaffen.

Die Filmemacherin Christiane Büchner hat nach langen Recherchen so ein Fallbeispiel mit filmbereiten Beteiligten in St. Petersburg gefunden und diesen Verkaufsprozess, der von BewohnerInnen, Maklerinnen und der zukünftigen Besitzerin gemeinsam und zwischendurch auch gegeneinander vorangetrieben wird, zusammen mit der russischen Kamerafrau Irina Uralskaja begleitet. Die Idee war, einen Film zu drehen, der den Umbau vom sozialistischen Gemeinschaftseigentum zum Privateigentum symptomatisch und ohne Armuts- und Oligarchenspektakel beschreibt. Der Zeitpunkt war günstig, denn der Markt in St. Petersburg boomte, weil die Moskauer ihn entdeckt hatten. Die neue Investmentbank „KIT Finanz“ florierte und vergab billige Hypotheken – inzwischen ist sie Pleite gegangen.

Die beiden Maklerinnen Rimma und Natalja erläutern mit großer, gelegentlich sarkastischer Eloquenz und glamourösen Fingernägeln das von komplizierten psychologischen und ökonomischen Dynamiken geprägte Arrangement. Da ist die eingeschüchterte allein erziehende Mutter, die ihr Kind nie durch die Gänge laufen lässt; die dominante Familie, deren Sohn bald zum Militär soll; der Muttersohn, der sein Zimmer als gelegentliche Absteige für Damenbesuche braucht; die Feng-Shui-begeisterte Einzelgängerin; und als künftige Besitzerin der Immobilie die Naturwissenschaftlerin, die ihren Job verloren hat und dabei ist, sich ein Geschäft mit Luxusstoffen aufzubauen. Ob oder wie das Ganze klappt, wird hier nicht verraten.MADELEINE BERNSTORFF

„pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung“, Regie: Christiane Büchner, Dok.film, D 2008, 85 Min., Hackesche Höfe, FSK und Krokodil