schwabinger krawall: wohnen im trambahnwartehäusl von MICHAEL SAILER
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Was eine Sozialkürzung ist, weiß POM Stanggradl als Polizist aus eigener Erfahrung, und dass eine Sozialkürzung immer die trifft, die sowieso nichts haben, leuchtet ihm auch ein. Bei allem Verständnis möchte er aber dem infolge von Sozialkürzungen mittel- und obdachlos gewordenen Diplomingenieur Johann Scherr den nächtlichen Aufenthalt im Trambahnwartehäusl am Kurfürstenplatz nicht gestatten, mag es noch so regnen und der mobile Hausstand des Ingenieurs (eine prall gefüllte Plastiktüte nebst drei Flaschen Bier und einer Zeitung) in Mitleidenschaft gezogen werden. Nicht umsonst seien die Wartehäusl in München mit großem Geldaufwand wind- und wasserdurchlässig gemacht worden: Ein Verkehrsunternehmen könne es sich nicht leisten, seine Fahrkunden mit der Anwesenheit traurig dreinblickender Sozialopfer zu konfrontieren. Das wirke abstoßend und erhöhe das Defizit – und es sei nun einmal verboten.

Wo er denn hinsolle, hat der Diplomingenieur gefragt. Es gebe, hat Stanggradl geantwortet, für Fälle dieser Art ein Nachtasyl. Das, hat der Ingenieur gesagt, sei hoffnungslos überfüllt, zudem liege es am anderen Ende der Stadt, wo er mangels Fahrkarte nicht hingelangen könne. Unter einer Isarbrücke zu übernachten sei bei den derzeitigen Wetterverhältnissen wegen Ertrinkensgefahr ausgeschlossen, und wenn er es recht überlege, stehe das Wartehäusl auf städtischem Grund, der ihm als Bürger der Stadt genauso gehöre wie irgendeiner dahergelaufenen Verkehrsgesellschaft. Zusammengefasst: Er bleibe da. Dann, sagt Stanggradl, müsse er ihn festnehmen. Dies möchte der Diplomingenieur gern vermeiden, daher packt er seine Sachen und marschiert davon in den Regen.

Eine halbe Stunde später melden die Mitarbeiter einer Reklamefirma in der Kaiserstraße telefonisch eine Bedrohungssituation: In der Durchfahrt ihres Hauses sitze ein Mann, trinke Bier und äußere sich in einschüchternder Weise. Es handelt sich, wie POM Stanggradl feststellt, um den Diplomingenieur Scherr, der energisch darauf hinweist, er tue niemandem etwas zuleide, dies könne sich aber bei Bedarf durchaus ändern, wenn das so weitergehe. Die Werber fordern sofortige Entfernung des Subjekts; die nächtliche Mehrarbeit, für die sie ohnehin keinen Lohnausgleich bekämen, sei ihnen sonst nicht zumutbar. „Lohnausgleich!“, brüllt der Diplomingenieur, aha, so nenne man das jetzt. Man dürfe also neuerdings froh sein, wenn man für seine Arbeit überhaupt Geld bekomme, und ansonsten aber trotzdem arbeiten, damit man nachts nicht auf der Straße sitzen müsse. Das sei Sklaverei und ein Bruch des Menschenrechts!

Um weitere Kalamitäten zu vermeiden, erteilt POM Stanggradl dem obdachlosen Aufrührer die Ausnahmegenehmigung, im Trambahnwartehäusl zu nächtigen. Schließlich sei das Arbeiten am späten Sonntagabend nicht verboten, auch nicht ohne Bezahlung; verboten sei es ebenfalls nicht, andere am Arbeiten ohne Lohn zu hindern; hingegen sei es zwar grundsätzlich verboten, im Trambahnwartehäusl zu nächtigen, dies falle aber nicht weiter auf, und da er sowieso eine Doppelschicht schieben müsse, könne er den Diplomingenieur ja frühmorgens rechtzeitig wecken.