: Oper ohne Skandal
Warum Bayreuth fürs Handbuch des Machiavellismus taugt
BERLIN taz ■ Die Reporter konnten ihre Enttäuschung nur mühsam verbergen. Funk und Fernsehen hatten bereits in den Pausen nach Bayreuth geschaltet, um den Halbzeitstand im mutmaßlichen Opernskandal zu vermelden. Wütende Damen in Abendrobe wollten sie zeigen, Türen knallende Prominente und indignierte CSU-Granden. Auf alles waren sie vorbereitet, nur darauf nicht: Dass Festspielchef Wolfgang Wagner freudestrahlend die „geglückte Aufführung“ lobte und selbst Ministerpräsident Edmund Stoiber von einer „überaus mutigen Inszenierung“ stammelte.
Dabei hatte der Enkel des Komponisten Richard Wagner mit Christoph Schlingensief einen veritablen Vertreter der Spezies „Skandalregisseur“ aufgeboten, um jeden Zweifel an seinem Erneuerungswillen zu zerstreuen. Ausgerechnet auf dem Grünen Hügel der fränkischen Festspielstadt ertrug das Publikum der sonntäglichen „Parsifal“-Premiere geduldig, was in Großstädten wie Hamburg, Hannover oder Berlin noch immer für Stürme der Entrüstung sorgt. So bescherte etwa der Katalane Calixto Bieito jüngst der Hauptstadt einen veritablen Skandal, als er Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ins Rotlichtmilieu verlegte. Nicht mal Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wahrte die Contenance und verweigerte in der Staatsloge konsequent jeden Applaus.
Dabei galt die Oper bislang als der letzte Hort des klassischen Theaterskandals. Im Schauspiel kann ein Regisseur machen, was er will – wenn er sich nicht gerade als notorischer Nazi oder alter Antisemit zu erkennen gibt, wird das Publikum mit müder Langeweile reagieren. Nicht so im Musiktheater, das vielen seiner Abonnenten noch immer als der Ort des reinen Wohlklangs gilt, der von Inhalten gleich welcher Art tunlichst nicht zu stören ist. Freilich gelten die Buhs meist nicht der Aufführung allein, sondern auch dem jeweiligen Opernchef, der zum Kampf gegen das Traditionspublikum geblasen hat.
Von Wolfgang Wagner lässt sich das beim besten Willen nicht sagen. Wenn überhaupt, dann ist der Bayreuther Alleinherrscher ein überaus konservativer Revolutionär. Mit Schlingensiefs Berufung hat der gewiefte Taktiker einen geschickten Zug getan. Nur ein vermeintlicher Reaktionär wie Wagner konnte es wagen, der Skandalnudel des deutschen Theaters den Weg auf die Opernbühne zu ebnen. Und nur ein künstlerischer Extremist wie Schlingsief konnte den greisen Festspielchef vom Ruch des Gestrigen befreien und seine Macht über Bayreuth sichern. Kein Politiker wird es jetzt noch wagen, die Familie zu entthronen. Für Skandale taugt diese Versuchsanordnung wahrlich nicht, eher schon fürs Handbuch des Machiavellismus. RALPH BOLLMANN