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Archiv-Artikel

Die Könige von Gaza

Der Gaza-Streifen vor einem möglichen Abzug der israelischen Armee: Die jüngsten Unruhen und Entführungen sind ein Indiz dafür, dass ein neuer Akt in einem langjährigen Drama angebrochen ist

VON SUBHI AL-ZOBAIDI

Gaza hat Charme. Trotz der Armut und den Verwüstungen, die über die Stadt gekommen sind.

Die Menschen aus Gaza haben einen stärkeren Sinn für die Gemeinschaft, und mit aller Bescheidenheit sind die meisten bereit, für andere etwas zu tun. Man merkt immer einen Unterschied, wenn man, aus Westjordanland kommend, mit Menschen aus Gaza arbeitet: Hier funktioniert alles kooperativer.

Aber Gaza besitzt auch landschaftlichen Charme: In einer Stunde kann man vom Sandstrand in die Wüste fahren. Üppig bewachsene Flecken wechseln sich mit Sand und Staub ab. Die besten Erdbeeren kommen aus Gaza und ganz sicher die besten Krabben. Zuerst wird Gemüse gegrillt, dann folgen Tomaten und grüne Pfefferschoten. Man presst das Ganze in ein Tongefäß, gibt die Krabben dazu, deckt es ab und schiebt es für einige Minuten in den Ofen. „Da isst du die Finger gleich mit“, sagt man auf Arabisch, um zu betonen, wie gut das schmeckt.

In den frühen Siebzigerjahren, kurz nach der Gründung der ersten palästinensischen Guerilla-Gruppen, war Gaza der Schauplatz der ersten bewaffneten Auseinandersetzungen mit der israelischen Besatzungsmacht. Im Gaza-Streifen begann die erste Intifada 1987, die sich über die ganzen besetzten Gebiete ausbreitete. Und die zweite Intifada von 2000 galt erst als „richtiger“ Volksaufstand, nachdem auch die Menschen aus Gaza auf die Straßen gegangen waren.

Anfang der Neunzigerjahre filmte ich einmal ein landwirtschaftliches Projekt in einem Dorf im Süden. Man produzierte biologisch und baute lokale und aus aller Welt importierte Pflanzen an. Die Farm wurde zu einem üppigen, grünen, sauberen und appetitlichen Ort. Die Dorfbewohner trafen sich dort wie in einem Garten. Ich filmte, als gerade eine Erweiterung gefeiert wurde, die Menschen wurden richtig euphorisch.

Gaza ist anders und offen: Nur dort waren missbrauchte Frauen bereit, vor der Kamera über ihr Schicksal zu reden. Und ich erinnere mich an meine Studienzeit in den frühen Achtzigerjahren, als wir zum Feiern von der Bir-Zeit-Universität zu den Clubs am Strand in Gaza fuhren.

Von diesem Gaza schreibe ich aber auch, um dem gängigen Bild vom kaputten, zerstörten Gaza etwas entgegenzuhalten, das Israel systematisch in einen Marktplatz für billige Arbeitsplätze, zu einem Exilort und in ein Gefängnis verwandelt hat. Israel hat den ganzen Gaza-Streifen mit elektrisch geladenem Stacheldraht und Mauern eingezäunt. Es gibt nur einen Eingang im Süden an der Grenze zu Ägypten und einen nach Israel im Norden – seltsam genug, dass die Leute immer noch von Eingang reden und nicht von Ausgang. Beide Eingänge kontrolliert die israelische Armee. Heute hat in Gaza mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine Erwerbsarbeit, und drei Viertel leben mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag.

Die Jahre seit der Gründung der Autonomiebehörden 1993 brachten zwar einige Veränderungen, aber längst nicht das, was sich die Leute erhofft hatten. Politisches und wirtschaftliches Missmanagement entfremdete die Menschen von den Behörden. Die islamistische Hamas-Bewegung wurde immer populärer, denn viele fühlten sich von ihrer eigenen Revolution betrogen. Sie warteten auf Revolutionäre, die im Zuge der Oslo-Abkommen aus dem Exil zurückkehrten und Gerechtigkeit und Frieden bringen sollten, aber sie bekamen Geld- und Machtsüchtige. Es war ein Goldrausch. Alles, was Geld einbringt, rissen die Männer der Behörden an sich.

Die Menschen aus Gaza hatten nichts zu sagen. Es entstanden auch keine Institutionen, die ihnen ermöglicht hätten, eingreifen und etwas verändern zu können. Ein einziges Mal wurde das Parlament gewählt, das war alles. Die einzige neue politische Kraft, die im Laufe der letzten drei Jahrzehnte ins Leben der Palästinenser trat, ist Hamas. Jede andere Partei ist immer noch wie früher: die gleiche Führung, die gleichen Dogmen, der gleiche Stil, die gleichen Parolen. Nur die Zahl ihrer Mitglieder nimmt ab.

Bloß Hamas und die Fatah-Bewegung von Jassir Arafat wurden größer. Alle, die dazwischenstanden, die ganze Linke also, liegt im Koma oder ist bereits gestorben. Fatah wuchs, weil sie die herrschende Partei ist und die Menschen von etwas leben müssen. Und Hamas wuchs, weil sie die einzige erreichbare Möglichkeit bot, all den Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken, die die meisten Leute erleben müssen. Diese beiden Parteien harmonierten nie, aber die Umstände zwangen ihnen einen anhaltenden Waffenstillstand auf.

Die letzten drei Jahre der Intifada haben viel verändert. Wobei die palästinensische Intifada in einen umfassenden israelischen Krieg gegen alles mündete, was die Autonomiebehörden unternommen hatten. Mit jedem Schlag gegen die palästinensischen Behörden und ihren Sicherheitsapparat wurde ihre Macht geschwächt. Dafür gewann Hamas an Stärke, aber auch die neuen Milizen innerhalb der Fatah legten zu.

Einige dieser Milizen wurden von mächtigen Figuren geschaffen und am Leben gehalten. So setzte etwa der frühere Sicherheitschef von Gaza, Mohammed Dahlan, vor ein paar Monaten eine bewaffnete Gruppe ein, um den Sicherheitschef Ghasi al-Dschabali anzugreifen. Sie schlugen und demütigten ihn, um Arafat ihre Macht zu zeigen. Dahlan handelt dabei nicht alleine; seine entsprechenden Dementis sind unglaubwürdig. Und Dahlan ist auch nicht der Einzige: Fast jeder Chef einer Sicherheitsabteilung machte sich zum König einer bewaffneten Gruppe, die seine Interessen verteidigt. Jeder dieser Männer hat mehr zu sagen als der höchste Richter in Palästina. Dieses Chaos hat Arafat zu verantworten.

Doch es gibt auch andere Milizen, die Al-Aksa-Brigaden beispielsweise. Sie entstanden aus der Frustration innerhalb der Fatah und der Behörden. Die Mehrheit der Fatah ist offensichtlich unzufrieden mit der bestehenden Machtverteilung. Diese Gruppen konnten Arafat zwingen, die Ernennung von einem der bestgehassten Männer in Palästina – seinem Neffen Mussa Arafat – zum neuen Sicherheitschef zurückzunehmen.

Al-Dschabali und Mussa Arafat gehören beide zu den korrupten Figuren. Doch obwohl alle palästinensischen Offiziellen über die Korruption reden, gab es noch kein einziges Verfahren, keinen einzigen Rücktritt, nicht einmal eine Untersuchung. Am dramatischsten in Gaza war die Ermordung des Chefs des palästinensischen Rundfunks, Hischam Makki, vor gut drei Jahren. Dieser Mann stank nach Korruption und sexuellem Missbrauch seiner weiblichen Angestellten. Doch er wurde nicht verhaftet, weil er achtzehn Millionen US-Dollar gestohlen hatte – nein, er wurde erschossen, und man hörte nie wieder etwas von dem Fall.

Die Militanten der Al-Aksa-Brigaden kommen aus Flüchtlingslagern und armen Dörfern. Sie schlossen sich als Nationalisten der Fatah an. Einige verbrachten lange Jahre in israelischen Gefängnissen, und fast alle sind verwandt mit – mindestens – einem „Märtyrer“. Sie haben gewaltige Erwartungen, und ihr Gespür für Korruption ist hoch. Sie beobachten, wer reich wird, wer in lusche Geschäfte verwickelt ist und wer dafür verkauft wird. Doch all die Jahre konnten sie nichts dagegen tun.

Die Entführung von Ghasi al-Dschabali letzte Woche, die darauf folgenden Verhandlungen, schließlich seine Befreiung und Entlassung als Sicherheitschef sind ein Akt in einem längeren Drama. Dieser Akt wird keine Probleme lösen, er hat nur einige Verbindungslinien aufgezeigt. Das Ende ist in Gaza nie vorhersehbar. Doch dies war ein wichtiger Akt. Noch keine Revolution, auch kein Aufstand gegen die Korruption, aber er bot zumindest eine Ahnung davon. Es zeigt, was passieren könnte, wenn all jene, die diese Gefühle teilen, auf die Straße gehen könnten.

Doch die israelischen Panzer, Helikopter und Bulldozer sind viel zu präsent und einschüchternd. Sie stehen auch einer Volksbewegung für politische Veränderung im Weg. Die israelische Politik will – aus vermeintlichen Sicherheitsgründen – jeden Wechsel in Palästina berechenbar halten und nimmt entsprechend Einfluss. Kein politischer Prozess kann in Palästina ungestört vor sich gehen.

Viel ändern wird sich auch jetzt daher nicht. Was bewirkt denn der Wechsel an der Spitze des Sicherheitsapparates schon in einer Gesellschaft, in der die Regierung noch nicht einmal Verkehrspolizisten in die Städte schicken kann? Die aufgebrachten Menschen fordern vor allem eine Geste. Sie wollen eine Person, die mehr der Öffentlichkeit verpflichtet ist als dem Präsidenten und dessen Entourage. Ich glaube, dass eine beträchtliche Zahl von Palästinensern Arafat weghaben will. Nicht, weil sie seine Person hassen. Aber das System, das er geschaffen hat.

Zu befürchten ist, dass es zu weiteren solchen Aktionen von Milizen kommt. Entführungen und Morde könnten zu einem Mittel der Veränderungen werden. Für Israel wäre das eine günstige Entwicklung. Denn es ist viel einfacher, einen solchen Wechsel im Griff zu haben, als Veränderungen in einer demokratischen und aktiven Gesellschaft. Selbst die revolutionärste Miliz mit den ehrlichsten Absichten wird in Palästina keinen sozialen Wandel bringen.

Nur ein Ende der israelischen Besetzung würde verschiedene Wege eröffnen. Die Wahl anderer Behörden etwa oder den Kampf gegen Korruption und Unfähigkeit innerhalb der Behörden. Jassir Arafat, der seit Jahren in Ramallah faktisch unter Hausarrest steht, kann sich unter den heutigen Bedingungen nur auf Leute verlassen, die er kennt und denen er traut. Und das gilt auch für jenen Klüngel der Mächtigen, die auf Arafat folgen werden.

Subhi al-Zobaidi ist palästinensischer Filmemacher und lebt in Ramallah