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Archiv-Artikel

Mister Sandman

Wenn Sie auf einem Flughafen von einem Fremden gebeten werden, für ihn ein paar ominöse Tütchen in Ihr Gepäck aufzunehmen, seien Sie auf der Hut: Es könnte ein Drogenhändler sein. Oder Ralf Hermann aus Salzgitter. Herr Hermann ist harmlos: Er sammelt Sand aus aller Welt

von KARL HÜBNER

Im Urlaub Kathedralen anschauen oder in Badebuchten abhängen? Ist beides nicht die Sache von Ralf Hermann. Lieber besteigt er mit einem Satz leerer Plastiktüten den nächsten Leihwagen, um durchs Land zu fahren. Am Abend sind die Tüten voll – mit Sand. Die kommen dann nach Hause: ins Deutsche Sandmuseum.

Post aus der Südsee ist natürlich immer schön. Aber heute freut Ralf Hermann sich besonders. Aus dem Umschlag mit den bunten Briefmarken von den Cook Islands rutscht ein Klarsichtbeutel heraus. Voll mit Sand. Puderfeiner, hellgelber Sand. Ralf Hermann nickt. Ja, die Menge ist gut. Auch mit der Beschriftung des Etiketts ist der Mann aus Salzgitter zufrieden: Fundort Cook Islands, Rarotonga, Avarua City Center. „Das ist perfekt. Manche andere hätten einfach ‚Cook Islands‘ geschrieben.“ Damit könne er natürlich nichts anfangen. „Zu allgemein.“ Vorbildlich dagegen Julia Ratzmann, die Absenderin. „Eine Frau, die in der Pazifik-Informationsstelle der Evangelischen Missionierung Bayern arbeitet.“

Aber etwas irritiert doch: Avarua City Center. Sand aus der Innenstadt? Hermann zückt einen Ordner. Und hat kurz darauf die Karte von den Cook Islands vor sich, schließlich auch die der Insel Rarotonga und dann den Ortsplan von Avarua. Jetzt ist klar: Avarua liegt direkt am Meer, auch der Stadtkern hat einen Strand. Der Beutel fliegt auf einen riesigen Stapel in der Ecke des Hermann’- schen Wohnzimmers: Tüten und Pakete in allen Größen und aus aller Welt. „Die Post dieses Sommers.“ Im Moment komme er kaum nach, das Material in seine Sammlung „einzupflegen“. Nicht nur ein Zeitproblem für Hermann, im Hauptberuf Archivar bei der Stadt Salzgitter. Längst auch eine Platzfrage: Die Sammlung füllt schon heute einen ganzen Raum im Untergeschoss.

Wer dort durch die graue Metalltür mit dem Aufkleber „Deutsches Sandmuseum“ tritt, könnte meinen, im Archiv eines wissenschaftlichen Instituts zu stehen. Dicht an dicht, bis unter die Decke, verlaufen schmale Kiefernregalbretter, auf denen sich unendlich viele kleine Gläschen aneinander reihen. Alphabetisch nach Ländern sortiert und beschriftet.

Das im vergangenen Jahr von einem Schweizer Museum veröffentlichte Buch „Le Sable“ (Der Sand) führt den Sandmann aus Salzgitter mit 6.400 Sanden unter 69 gelisteten weltweiten Sammlern zwar noch auf Platz fünf, doch mittlerweile hat Hermann seine Bestände verdoppelt, und für ihn ist klar: „Hier lagert die zweitgrößte Sammlung der Welt.“

Angefangen hat alles 1989. Ebenso zufällig wie harmlos. Hermann ist zu dieser Zeit ein großer Schlangenfan, ein Hobbyherpetologe. Aus Begeisterung für die Kriechtiere fliegt er in jenem Jahr bis nach Botswana in den Süden Afrikas – eigens, um an einer wissenschaftlichen Exkursion des Naturhistorischen Museums Pretoria teilzunehmen. In den Wüsten Botswanas passiert es dann. Hermann schaufelt zum ersten Mal Sand in einen Beutel, um ihn mit nach Deutschland zu nehmen. Zunächst nur, um seinen eigenen Tieren eine neue Kriechgrundlage zu bieten. Bald aber gehört Sand zum regelmäßigen Rückreisegepäck. Und dann beginnen auch noch Freunde, Strandmaterial aus aller Welt mitzubringen und in Salzgitter abzuliefern.

1997 hat Hermann bereits einige hundert Sorten – und beschließt, Ernst zu machen. Die Schlangen treten endgültig in den Hintergrund, stattdessen wird Hermann Mitglied in zwei Sandsammlervereinen: in der „International Sand Collectors’ Society“ und bei den „Sand Collectors International“ (www .sandcollectors.org). Außerdem stellt er sein ganzes nebenberufliches Tun fortan unter einen neuen Projekttitel: Deutsches Sandmuseum. Bis auf weiteres nur ein Name, ein Unternehmen, dem lediglich noch der Raum für mehr Öffentlichkeit fehlt.

Um seine Sammlung möglichst international auszurichten, schreibt Hermann in den frühen Jahren des Museums auch die diversen Botschaftsvertretungen in Deutschland an. Einige antworten sogar. Litauen etwa mit zwanzig Kilogramm. Benin stellte sechs Proben zur Verfügung. Und selbst das militärregierte Myanmar (Birma) zeigte sich kooperativ. „Die haben sehr, sehr schönen Sand geschickt“, erinnert sich Hermann noch heute mit leuchtenden Augen.

Aber was heißt eigentlich „schön“ bei Körnern, die – gemäß der geologischen Definition – einen Durchmesser zwischen 0,06 und 2 Millimetern haben? Der Strandurlauber mag Weiß schöner finden als Gelb. Trocken angenehmer als feucht. Fein besser als grob. Auch wird er es begrüßen, wenn der Sand nicht mit spitzem Kies durchsetzt ist, der dann im Rücken pikst. Für Hermann spielen andere Dinge eine Rolle. „Einen besonders schönen Sand habe ich aus Neukaledonien.“ Zielsicher holt er das Glas mit der Nummer 3525 aus seinem Regal. Ein Sand, der aufgrund ganz verschiedener Bestandteile mehrfarbig gesprenkelt erscheint. Er besteht aus roten, schwarzen und auch farblosen Körnern. Besonders stolz ist der Sammler natürlich auch auf außergewöhnliche Farben. Etwa einen rosafarbenen Sand aus Minnesota. Oder einen blauen aus Südafrika. „Blau ist sehr schwer zu bekommen.“

Oft begeistert aber auch gerade das, was zwischen den Sandkörnern zu sehen ist. „Ich finde es immer wieder faszinierend, wenn ich auf Muschel- oder Fossilienreste stoße.“ Etwas, was Hermann mit seinen Mitteln allerdings nicht weiter untersuchen kann. Chemische Analysen sind undenkbar; selbst ein Mikroskop fehlt ihm. Für die vielen schönen Fotos der Mikrostrukturen seiner Sande muss er seine Proben regelmäßig an den Fotografen Alexander Heider schicken. Der fertigt dann Aufnahmen in zwanzig- bis dreißigfacher Vergrößerung an. Wunderschöne Bilder, auf denen farbige Sandkörner in ihrer Ebenmäßigkeit wie Halbedelsteine aussehen.

An diesem Tag bleibt es nicht bei der Postsendung aus der Südsee. Als Hermanns Frau Angela Siegel von der Arbeit nach Hause kommt, drückt sie ihm einen großen Einkaufsbeutel in die Hand. „Schönen Gruß von Ines aus der Türkei.“ Jäh unterbricht Hermann das Gespräch und stürzt sich auf den Beutel wie auf ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk. Fünf Proben kommen zum Vorschein. Mit kundigen Handbewegungen streicht der Experte über den Sand. Ines ist die Tochter einer Arbeitskollegin seiner Frau, erklärt er nebenbei. Eine Botanikerin, die gerade auf Exkursion im hintersten Osten der Türkei ist. „Da, wo sonst keiner hinkommt!“

Von solchen Flecken gibt es viele. Über Sand von den Galapagosinseln würde sich Hermann zum Beispiel unheimlich freuen. Bhutan fehle noch, Ghana, China und Burkina Faso. Und Tiefseeproben. Ein Knüller für sein Museum wäre natürlich Sand vom Mond. Die Nasa hat sogar mal welchen versteigert. Hermann erfuhr zu spät davon. Ebenso wie von einer großen Wegschmeißaktion in Berlin. „Als die Sedimentologen der Technischen Universität ihr altes Gebäude aufgaben, haben die sich von ihrem gesamten Sandarchiv getrennt.“ Für Hermann ging dort ein Schatz verloren. Das soll nie wieder vorkommen. Heute hält er Kontakt zu einem Berliner Professor – und möchte sein Museum generell Instituten für Dokumentationszwecke anbieten.

Natürlich stehen längst auch die Urlaube von Ralf Hermann und seiner Frau unter dem Diktat der Probenahme. Andere mögen beim Frühstück diskutieren, ob Fresken und Architektur oder aber ein Badetag auf dem Programm stehen. Nicht so die zwei aus Salzgitter. „Das liegt uns beiden nicht. Wir fahren gerne rum.“ Warum also nicht rumfahren und dabei Sand einsammeln? Als sie in diesem Sommer von Kreta zurückkamen, hatten sie rund 270 Sandproben im Gepäck; Hermann verfolgt schließlich eine möglichst vollständige Kartierung. Letztes Jahr auf den Kapverden waren es rund zweihundert Proben – oder siebzig Kilogramm. Bei einer Flugreise ein echter Kostenfaktor, zumal die Verschiffung der Ladung bürokratische Probleme machte. „Wir nehmen in solchen Fällen die wertvollsten Sande ins Handgepäck. Für den Rest sprechen wir am Flughafen Mitreisende an, ob die den einen oder anderen Beutel übernehmen können.“ Ein nicht zu unterschätzendes Problem, da viele Touristen argwöhnen, als naive Drogenkuriere missbraucht zu werden.

Über seine Probendokumentation ist der Sandmann auch Experte in Sachen ISO 3166-2 geworden, des „International Standard for Country Codes“. Ohne diesen international verbindlichen Länder- und Regionenindex wäre keine eindeutige Beschriftung möglich. So weiß er, dass ein Sand von der kapverdischen Insel Fogo nicht einfach mit „Fogo“ zu beschriften ist, sondern mit „FO IS CV/AO“. Ergänzt werden solche ISO-Bezeichnungen dann noch um die Lage des jeweiligen Strandes. Hermann tritt keine Reise mehr ohne GPS-Gerät an, mit dem er die jeweilige Position per Satellit exakt bestimmen kann.

Ein Vorgehen, das er sich auch von anderen Sammlern wünschen würde. „Auf den Tauschbörsen wüsste man so immer sofort genau, woher ein Sand wirklich kommt.“ Solche Börsen sind ein wichtiges Forum, um die Sammlung zu ergänzen. Seine Kollektion der gesamten Küste Floridas habe er auf diese Art bekommen. Und ein Franzose hat ihn mit praktisch allen Sanden zwischen Südfrankreich und der Costa del Sol versorgt. Erst vor kurzem war wieder so eine Zusammenkunft in den Niederlanden. Hermann ist aber nicht gefahren. Wegen der Kosten.

Überhaupt das Geld. Noch fehlt dem Hobbysedimentologen das Kapital, um seinen eigentlichen Traum zu verwirklichen: dem Deutschen Sandmuseum endlich auch den gebührenden Raum zu geben und es für Besucher zu öffnen. „Viele denken vielleicht, was ich hier mache, ist ein kauziger Spleen.“ Worum es ihm aber wirklich gehe, sei, einer breiten Öffentlichkeit klar zu machen, was Sand für das Leben bedeute. „Sand ist ja ein unverzichtbarer Rohstoff.“ Nicht nur für Kinder, die ihre ersten Freilandexperimente im Sandkasten durchführen. „Ohne Sand kein Beton, kein Zement, kein Glas, keine Keramik und letztlich auch keine Halbleiter und Computerchips“, stellt er klar. Genug Stoff für eine Ausstellung. Seine Sammlung wäre nur ein Nebenaspekt. Was fehlt, sind Sponsoren.

In das Museum kämen natürlich auch all die Sanduhren, die schon jetzt eine eigene Vitrine in Hermanns Keller füllen. Und auch Sandgemälde. Hermann weist auf ein solches Sandpainting-Produkt: ein Navajomotiv, das ein deutscher Künstler mit verschiedenfarbigen Sanden auf eine Unterlage geklebt hat. Ocker kam dabei aus Quedlingburg, das Blau aus Südafrika.

Es klingelt. Ein Freund schaut überraschend vorbei und liefert sein jüngstes Souvenir ab: Sand aus Fuerteventura. „Mensch, Uwe, danke!“, freut sich der Empfänger und lobt die gute Beschriftung. Und auch die Menge. Er sagt immer allen, dass sie mehr mitbringen sollen. Für die eigene Dokumentation braucht er zwar nur eine Filmdose voll, aber der Rest sei für die Tauschbörsen wichtig. Und für den Fotografen.

Sosehr Hermann sich auch über jede neue Probe freut, er nimmt durchaus nicht jeden Sand. Von einem Beutel, den ihm ein russischer Lkw-Fahrer mal von einer Osteuropatour mitgebracht hatte, trennte er sich schnell wieder. Der war aus der Nähe von Tschernobyl.

Kontakt: Deutsches Sandmuseum, Am Mühlenplan 3, 38229 Salzgitter; Fon (0 53 41) 1 44 22; E-Mail: sandmuseum@gmx.de Karl Hübner, 39, lebt in Köln. Auch er brachte einmal zwei Sande von einer Reise mit. Allerdings war daheim die Beschriftung verwischt