: Gastarbeiter unterm Roten Stern
Beim Projekt „Erlebnis Grünes Band“ trifft man auf Menschen, die ihre Geschichte der Teilung erzählen
VON FRANZ LERCHENMÜLLER
Leuchtete am Ende des Monats der Rote Stern auf dem Dach, war alles gut: Die Belegschaft des Schieferwerks Lehesten in Thüringen hatte ihr Soll erfüllt und jeder Malocher erhielt einen Liter Bergmannschnaps – auch die Gastarbeiter aus dem Westen. Gastarbeiter aus dem Westen? „Ja, kaum zu glauben, die gab es“, sagt Günter Hoderlein aus Reichenbach in Franken. Zwischen 100 und 200 Westdeutsche arbeiteten Ende der 50er-Jahre in dem Schieferbruch und fuhren jeden Morgen mit dem Bus über die Grenze.
Günter Hoderlein selbst stellte sich, als er 13 war, im Werk vor und wurde genommen, um Schieferabfälle mit Schablone und Schere in Form zu bringen. Zwei Drittel des Gehalts gab es in Westgeld, ein Drittel als Gutschein, mit dem man einkaufen konnte im HO-Laden, der extra gut bestückt wurde: „Ich hatte schon mit 16 ein Fahrrad mit Gangschaltung“, sagt der 65-Jährige leise lächelnd. Perlonstrümpfe und Orangen wanderten in die andere Richtung, selbst die eine oder andere Ost-West-Liebschaft entwickelte sich: „Wo ein Wille ist, ist schließlich auch ein Weg.“ 1961 war Schluss: „Nach dem Mauerbau ging der Hüttenmeister herum und sagte: Ihr könnt dableiben, jeder kriegt eine Wohnung gestellt. Aber keiner ließ sich darauf ein.“
Die Begegnung mit dem 65-jährigen Arbeiter an der einstigen Schiefergrube ist der Höhepunkt einer Pauschaltour im Rahmen des Projektes „Erlebnis Grünes Band“. 1.393 Kilometer lang und zwischen 50 und 200 Meter breit zieht sich der einstige „Todesstreifen“ durch Deutschland. Etwa ein Drittel davon steht unter Naturschutz: ein Verbund von Auenwiesen, Bruchwäldern und Heideflächen, in denen mehr als 600 gefährdete Tier- und Pflanzenarten leben. Zum 20. Jahr der Grenzöffnung förderte das Bundesamt für Naturschutz drei Modellprojekte, in denen die Quadratur des Kreises versucht wird: Im Harz, der Region Elbe-Altmark-Wendland und eben hier, im Gebiet Thüringer Schiefergebirge-Obere Saale-Frankenwald soll länderübergreifend der Naturschutz verstärkt, zugleich die Erinnerung an die Grenze wachgehalten und die Besucherzahl erhöht werden.
Speziell ausgebildete Naturführer zeigen Interessierten die kleinen und großen Schätze im einstigen Sperrgebiet. „Sonnentau, Smaragdlibelle, Keulenschrecke“, zählt Biologe Stefan Beyer auf. „Und vor allem die sehr gefährdete Heidelerche“. Sie braucht einen trockenen, lichten, mageren Standort am Waldrand – so, wie sie ihn auf dem ehemaligen Grenzstreifen bei Mitwitz vorfand. Doch während der letzten zwanzig Jahre schossen manche Birken fünf, sechs Meter hoch. Deshalb haben Jugendliche aus aller Welt in diesem Sommer Schösslinge und Bäume ausgerissen und die niedere Strauchheide wieder freigelegt – auch diese workcamps sind Teil des Projekts.
Daneben aber nutzten die Touristiker die Chance, einzelne kleinere Attraktionen in der Region in Pauschalen einzubinden. Und förderten dabei so manches Schmuckstück zutage. So gestaltet in Probstzella ein Fabrikant ohne viel Tamtam das ehemalige Haus des Volkes, das größte Bauhausdenkmal Thüringens, zu einem Hotel um. Alfred Arndt errichtete das Gebäude 1927, während der DDR-Zeit fanden dort Konzerte für die Grenztruppen statt, in den letzten fünf Jahren ließ Dieter Nagel Lampen, Stühle, Tische und Schränke originalgetreu nachbilden. Die Ausmalung der Räume – Terrakotta, Blau und Grau und Gelb – verrät, warum Arndt als der Farbkünstler der Dessauer galt.
Zwischen Gräfenthal und Lichte ist eine Draisine unterwegs, von Steinwiesen nach Nordhalben verkehrt die restaurierte Rodachtalbahn. Es gibt Grenzmuseen in Gräfenthal und in Nordhalben und Fahrradtouren, die am berühmten Rennsteig entlangführen, mit Halt in Heinersdorf, wo noch ein Stück der Mauer steht. Nicht immer klappt dabei das Zusammenspiel zwischen Naturschutz und Tourismus ganz reibungslos. Die Unimog-Touren der Firma Grenzfahrten sehen die Biologen nicht gerade mit Begeisterung. Dröhnend röhrt der bullige Laster die dreißigprozentige Steigung des Plattenwegs bei Nordhalben hinauf. Oben erklärt Marcel Müller anhand von Schaubildern sehr verständlich den Aufbau der Grenzbefestigungen mit Signalzaun, Selbstschussapparaten, Hundelaufanlagen und Plastikminen: „Eine Million Mark kostete jeder Kilometer Grenze die DDR – kein Wunder, dass es keinen Beton im Land gab.“
Wer lieber auf eigene Faust unterwegs ist, kann künftig an fünf Stellen Audioguides leihen, die ihn mit Informationen zu Natur und Geschichte versorgen. Aber spannender ist es allemal, mit Menschen loszuziehen, die Geschichte selbst hautnah erlebten: Die Dämmerung bricht sehr schnell herein, der Pfad durchs Gehölz ist nur noch schwer auszumachen. Jedes Knacken der Äste, jeder halbunterdrückte Fluch, wenn ein Schuh in den Morast tappt – das wäre damals zu viel, wäre verräterisch gewesen. Damals, in den Jahren nach dem Krieg bis 1961, als die deutsch-deutsche Grenze noch stellenweise durchlässig war und einige Thüringer sich in dem hügeligen, bewaldeten Gebiet bei Sonneberg öfter nachts nach Oberfranken wagten. Verstohlen, lautlos, nach allen Seiten sichernd schlichen sie zwischen den Fichten hindurch.
Zumindest ein wenig können die fünf Männer, die heute Abend auf den alten Schmuggelpfaden zwischen Thüringen und Oberfranken unterwegs sind, die Angespanntheit und Nervosität ihrer Vorgänger nachempfinden. „Meine Mutter haben sie einmal geschnappt“, sagt der Klempner aus Sonneberg in die Dunkelheit hinein. „Sie hat Schuhe getauscht. Man sperrte sie eine Nacht ein und nahm ihr die Kartoffeln weg.“
Jetzt mündet der Pfad auf den ehemaligen Kolonnenweg, der parallel zum Grenzzaun verlief. Das Gehen wird einfacher, es ist Zeit für Geschichten: wie manchmal die Minen hochgingen, weil ein Wildschwein daraufgetreten war. Warum es eine „Stillhalteprämie“ für Menschen im Sperrgebiet gab. Und was man empfand, als der Kollege Kartoffelausfahrer mit dem Lkw in den Westen durchbrach. „Ich bin hiergeblieben“, sagt der Klempner. „Thüringer sind heimattreu. Ich habe es nicht bereut.“
Natürlich kommt bei den Begegnungen mit Menschen im Grenzland auch die Gegenwart nicht zu kurz. Die Jugendlichen in Probstzella fahren selten nach Franken, weil ihnen dort „die Musik zu hausbacken“ ist. Die Chefin der Porzellanfabrik in Schauberg hat je zur Hälfte Beschäftigte aus Ost und West und sieht keine Unterschiede. Alle Unternehmer im Westen aber schimpfen auf das „Förderungsgefälle“ zugunsten des Ostens. Lediglich in Stockheim ist schon zusammengewachsen, was zusammengehört. Am „Neuglosberger Bratwursthäusle“ gibt es für 2,40 Euro die „Wiedervereinigte“: „Eine fränkische und eine Thüringer Bratwurst zusammen im Brötchen“, sagt Pächterin Karin Spindler verschmitzt. „Für alle, die sich bis jetzt immer noch nicht entscheiden können, ob es im Westen besser ist oder im Osten.“
FRANZ LERCHENMÜLLER ist freier Reisejournalist und lebt in Kiel