: Moderne Adaption, antikes Muster
Ilija Trojanow erzählt urkomische Geschichten, wie sie aus kulturellen Missverständnissen entstehen, und von den Folgen der Globalisierung
von RENÉE ZUCKER
Natürlich erhöht es den Genuss ungemein, wenn man den ein oder anderen Ort kennt, von dem Ilija Trojanow erzählt. Aber es mindert das Vergnügen keinesfalls, wenn man noch nie dort war. Das einzig Unangenehme, das einem beim Lesen dieses wahrhaft schönen Buchs passieren kann, ist die Entwicklung eines nagenden Neidgefühls, einer immer größer werdenden Sehnsucht. Diese Reise hätte man auch gerne unternommen, am liebsten mit dem Autor selbst, denn so interessant Indien allein schon sein kann – um wie viel informativer, lustiger und aufregender ist es mit jemandem, der schon so viel von der Welt gesehen und sowohl mit dem Herzen wie mit dem Verstand so viel von ihr begriffen hat, ohne dabei das Staunen verlernt zu haben.
Es ist aber auch eine anstrengende und bizarre Reise, die in 4.000 Meter Höhe an einem Gletscher oberhalb des Ortes Gangotri beginnt. Dort, wo Ganga, wie Mutter Ganges in Indien genannt wird, entspringt – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man Trojanow glauben darf, der schon auf den ersten Seiten den wirbelnden Geburtssturz des heiligsten Flusses auf dem Subkontinent beschreibt, um dann zunächst doch erst einmal dort zu landen, wo alle landen müssen, die sich mit Indien beschäftigen: bei Schiwa und Parwati. Wie sie sich trafen und schon ihre erste Umarmung Jahrhunderte dauerte. Wie Parwati den Vielarmigen fragt, wer er sei, und er antwortet, dass sich alles wandle, nur er nicht, und dass sie Mahadewi, die Mutter aller Mütter, sei und die Einzige, die die Welt erzählen könne. Denn die Welt lebt und lebt auch nicht – solange man nicht von ihr erzählt.
Trojanow lässt die Welt unaufhörlich leben, indem er nicht aufhört, von ihr zu erzählen. Von wilden Flüssen, eigensinnigen Göttern, gemütlichen Flussbetten, müllübersäten Bergtälern, zubetonierten Städten und geldgierigen Touristenführern. Aber auch von schlitzohrigen Heiligen und rätselhaften Weisen – und wie es kam, dass Götter, Dämonen und Menschen gemeinsam ins Tal des Lebens herabstiegen.
Trojanow erzählt von den großen, andächtigen Momenten und von den kleinen, albernen Begebenheiten, die sich am Ende dann doch zu einem wenigstens kleinen, andächtigen Moment entfalten können. Wie in der Geschichte von Deepak, der Aphorismen auf Pappschilder an der Straße schreibt, in mehr oder weniger fehlerhaftem Englisch: „Live for today – drive for tomorrow“ oder „Accidents breed when you overspeed“ – wenn nicht gar: „Mountains are a pleasure only if you drive with leisure“, und Trojanows ansteigende Freude an Deepaks Kreativität kann man leicht teilen. Dass aber Deepak dann doch mehr ist als ein plumper Graffitikritzler wird schnell deutlich.
„Deepaks künstlerische Motivation hatte ich verstanden“ schreibt Trojanow, „doch seine Metaphysik, das Gefäß, in das er seine Tropfen, Poesie und Warnung goss, begriff ich erst kurz vor unserer Ankunft in Rishikesh. „There is no shortcut to safe driving.“ Das war der Schlüssel. Es gibt keine Abkürzung zur Erlösung. Man muss den ganzen mühsamen Weg beschreiten, alle Kurven ausfahren, der Vielfalt alle Namen belassen. Als das Gesamtkunstwerk sichtbar wurde, verstand ich, dass sich Deepak der Form der Ganga Shtotra bedient hatte, einer Sammlung von 108 Namen der Göttin Ganga; er hatte in respektvoller Paraphrase 108 Mantras zur Verkehrssicherheit formuliert. Moderne Adaption, antikes Muster.“
Trojanow unterscheidet sich insofern von einem normalen westlichen Beobachter einmal dadurch, dass er schon kein normaler Westler ist. Er, in Bulgarien geboren, in Kenia aufgewachsen, eine Zeit lang in München gelebt und jetzt in Bombay, dürfte sich eines größeren Kosmopolitentums rühmen als die meisten von uns. Und er spricht Hindi, ist also auch für die Inder jemand, der sich von den meisten Besuchern des Subkontinents unterscheidet. Er kennt und erfährt einfach mehr und hat dennoch weder das Staunen noch die Freude am Absurden verloren. Das macht sein Buch in vielerlei Hinsicht interessant und attraktiv. Er weiß um den geheimnisvollen Mythos, die spiritituelle Kraft Indiens genau so wie um das rätselhafte Gebaren und die kindliche Großspurigkeit seiner Einwohner.
Er erzählt urkomische Geschichten, wie sie nur aus kulturellen Missverständnissen entstehen können, aber auch vom heiligen Ernst, der genau jenen Unterschieden innewohnt. Und so kosmopolitisch der Autor selbst ist, so deutlich werden auch die Folgen der Globalisierung. Der exotischen Kulisse und den kulturellen Differenzen zum Trotz befinden wir uns plötzlich in einem Call-Center für General Electric, wo 1.200 Inder in einem Großraumbüro sitzen und prüfen, wann einer Techniker in Atlanta Zeit hat, zur Gerätereparatur vorbeizukommen – 1.200 Inder, denen man die indische Musik aus ihrer englischen Sprache abgewöhnt und ihnen stattdessen beigebracht hat, die verschiedenen amerikanischen Akzente zu verstehen und auf keinen Fall dem Kunden zu verraten, dass man kein Amerikaner, sondern Inder ist.
Aber daneben gibt es eben auch immer noch die Welt der religiösen Feste und der Pilgerfahrten – Trojanow erzählt in einem der stärksten, weil dem typischen Bild des menschenstarrenden Indien am meisten entsprechenden Kapitel vom ersten Kumbh-Mela-Fest im 21. Jahrhundert in Allahabad im Bundesstaat Uttar Pradesh, wo Ganges und Jamuna zusammenfließen. Ein Fest, zu dem jeder Gläubige wenigstens einmal in seinem Leben gewesen sein sollte. Nicht zählbare Menschenmassen wälzen sich an den Ufern des Ganges entlang; 15 Tage lang folgen sie religiösen Aufführungen, karnevalsartigen Prozessionen, nehmen an rituellen Reinigungsbädern teil, schubsen, stoßen, treten und schlagen sich dabei – immerhin handelt es sich um schätzungsweise 11 bis 33 Millionen Menschen, und Trojanow lässt sich furchtlos und neugierig auf alles ein.
Das sind seine größten Eigenschaftsschätze, an denen er uns teilhaben lässt, wenn er von fremden Welten erzählt und sie dadurch leben lässt. Von Ekstasen und Zusammenbrüchen, von schelmischen Asketen und westlichen Suchenden, von all dem erzählt Trojanow in passend wundersamer Weise.
Ilija Trojanow: „An den inneren Ufern Indiens. Eine Reise entlang des Ganges“, 200 Seiten, Hanser Verlag, München 2003, 14,90 €