: Knall mich ab, Arschloch!
Sozialkritik zum Schießen: Die Berliner Schaubühne führt George F. Walkers Loser-Zyklus „Suburban Motel“ auf und erfindet sich (teilweise) neu.Der Hang zum Menscheln im Müll darf nun auch auf die Schippe genommen werden, der Regisseur Armin Petras bringt seine lässige Handschrift ein
von ESTHER SLEVOGT
An der Berliner Schaubühne ist Robert Beyer den wahrscheinlich schönsten Theatertod seit langem gestorben. Dabei konnte man ihn noch nicht einmal sehen. Denn das Drama spielte sich auf der Toilette ab, uneinsehbar von den schäbigen Stühlen, auf denen Bühnenbildner Jan Pappelbaum das Publikum platziert hatte. Die übrigen Bewohner des heruntergekommenen Motelzimmers, das er in ein Pleite gegangenes, gegenüber der Schaubühne gelegenes Küchenstudio gebaut hat, waren längst von Maschinengewehrsalven niedergemäht worden. Bloß der dauerbesoffene Hausmeister Phillie hat im Klo überlebt. Es ist schon der zweite von drei ausgesprochen bemerkenswerten Theaterabenden, an denen die Schaubühne den sechsteiligen Loser-Zyklus „Suburban Motel“ des Kanadiers George F. Walker uraufführte. Wobei Teil eins, „Problemkind“, lediglich als szenische Lesung zu sehen war und auch in den Teilen zwei bis sechs die Textbücher weiter in Benutzung blieben. Manchmal waren sie etwas hinderlich, beispielsweise wenn beim rhythmischen Kopulieren im Stehen gleichzeitig umgeblättert werden musste. Im Wesentlichen trugen sie aber deutlich zum Gelingen der Veranstaltung bei, was nicht von Anfang an vorhersehbar war.
Denn zunächst sieht es aus, als hätte sich die Berliner Schaubühne unter Thomas Ostermeier auf ihre Baracken-Ursprünge besonnen, würde noch mal in kleinen, schmutzigen Stücken vom Elend des Kapitalismus erzählen: grell, poppig, komisch. Etwa zwei Dutzend Loser vom untersten Ende der sozialen Nahrungskette führt Walker der Reihe nach in ein und dasselbe schäbige Zimmer eines Vorstadtmotels, um sie dem Publikum in einer grob gestrickten Mixtur aus Slapstick, Soap, Boulevard und Melodram zum Fraß vorzuwerfen: in einer ausgesprochen unsozialen Form der Sozialkritik, die sich nämlich an den Verhältnissen, an denen Typen wie das Junkiepaar Denise (Jule Böwe) und R. J. (Kay Bartholomäus Schulze), der arbeitslose Henry (Jörg Hartmann), dessen Frau vom Hausfrauen- ins Hurenfach wechselt, leiden, bloß noch ergötzt; als habe man es mit Gästen in Extremtalkshows Marke Bärbel Schäfer zu tun, wo das Elend anderer quotenbringend vermarktet wird.
Je verzweifelter Walkers Figuren versuchen, sich aus ihrer Misere herauszuarbeiten, desto tiefer geraten sie in ihr Unglück hinein. Sie rutschen über Kalauer, stolpern über hahnebüchene Plots und scheitern an der Fantasie des Autors, der keine Gnade mit ihnen kennt. Da wird eine Sozialarbeiterin (Cristin König) erst erschlagen und lebendig begraben. Dann ist sie doch nicht tot und darf im Motelzimmer ihrer Mörder erst mal eine Dusche nehmen. Da gibt es einen sexuell entgleisten Polizisten (Felix Römer), der lieber mit Nutten als mit seiner Gattin schläft. Wir treffen eine schwangere Witwe, deren Mann von einem Bären gefressen wurde. Oder eben Phillie, den Hausmeister, den Robert Beyer spielt, als gelte es, den knarzig-zuckenden kultigen Hilfssheriff Festus Haggen, der einst in „Rauchende Colts“ Matt Dillon zur Hand ging, an Schrägheit noch zu übertreffen. Von allen Beteiligten wird gebrüllt und chargiert, dass die Fetzen fliegen. Gelegentlich erreicht die Aufführung ein Niveau, dass man sich ängstlich umzusehen beginnt, ob nicht am Ende der Kultursenator im Publikum sitzt und nach der Vorstellung sofort zur nächsten Theaterschließung schreitet.
Aber spätestens, als Phillie im Klo von den Kugeln der Mafia niedergestreckt wird, kippt die Stimmung. „O super!“, hört man ihn noch sagen. Immer haben ihn andere bloß in Schwierigkeiten gebracht, zuletzt die idiotischen Gangster, in deren missglückten Coup er sich sehr zu seinem Nachteil verwickeln ließ. „Noch so ein hirnamputierter Idiot in meinem Leben und gleich knallt er mich ab. Na dann los, Arschloch. Knall mich ab, Arschloch. Knall mich ab. Wen juckt’s.“ Ein Schuss fällt. „Na, super“, sagt er noch. Stück Nummer drei („Genie und Verbrechen“) ist zu Ende, und das Publikum jubelt. Nie hat man die Schaubühne so selbstironisch ihren Hang zu säuerlicher Sozialkritik, zum Menscheln im Müll auf die Schippe nehmen sehen.
Regisseur Armin Petras, der drei der sechs Stücke arrangierte (und zum ersten Mal an der Schaubühne arbeitet), hält sich nicht lange auf mit Figuren und Milieu und treibt comichaft auf die Spitze, was George F. Walker als verkorkste Sozialstudie angelegt hat. Dem sozialkritischen Theater mit all seinen pathetischen Posen macht Petras mit virtuoser Beiläufigkeit den Garaus. Und während Enrico Stolzenburg, der zwei weitere „Folgen“ inszenierte, versucht, den Schicksalen mit einem Rest von dramatischem Ernst zu begegnen, und den Blick auf diesem Weg eher verflacht als vertieft, haben Petras’ Figuren plötzlich eine fast lehrstückhafte Schärfe, die zu allerschönsten Hoffnungen an zukünftige Schaubühnenarbeiten Anlass geben.
Das letzte Stück des Zyklus, „Risiko“, hat dann der Hausherr Thomas Ostermeier selbst inszeniert. Während sich bei der Premiere vor den Schaufenstern bereits die kleine Privatstraße mit Partygästen füllte, die den 41. Geburtstag der Schaubühne feiern wollten, konnte man eine raffgierige Alte (Ursula Staack) dabei beobachten, wie sie für eine Handvoll Mafia-Dollar das Leben ihrer Familie riskiert. Doch Witz und Spannung verpuffen in Ostermeiers Versuch, an Petras’ lässige Handschrift anzuknüpfen. Trotzdem: Dieser hingerotzte Saisonauftakt gehört zum Besten, was es in der neuen Schaubühne bisher zu sehen gab, die immer so dicht dran ist an der Wahrheit und sie im letzten Moment aus lauter szenischem Übereifer dann doch noch verfehlt.