: Schulpflicht schon für Dreijährige
SPD-nahe Experten fordern Vorschule und Kita-Plätze für alle. Kinder würden nicht nur klüger, sondern auch gesünder
BERLIN taz ■ Die Bildungsreform ist zu wichtig, als dass sie am Bund-Länder-Gerangel scheitern darf, findet Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium: „Wir brauchen einen nationale Strategie für eine bessere Bildung. Aus der darf sich kein Bundesland verabschieden.“ Wie die Strategie aussehen könnte, erklärte ihm gestern ein Expertenteam. Vier Fachleute für Familie, Gesundheit und Bildung haben im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Expertise erarbeitet. Mehr Bildung für Kleinkinder – damit wollen sie den Weg in eine klügere, gesündere und gerechtere Nation ebnen.
Die Wissenschaftler plädieren für ein flächendeckendes Kita-Angebot und Ganztagsschulen. Kern ihrer Vision aber ist eine Vorschule für Kinder von drei bis sechs. Sie soll kostenlos sein und ein hochwertige, standardisierte Ausbildung bieten. Jede Familie wäre verpflichtet, den Nachwuchs dorthin zu schicken. „Es ist wichtiger, die Nachteile unterprivilegierter Kinder auszugleichen, als den Wünschen einiger Mütter zu entsprechen, die ihre Kinder lieber zu Hause haben möchten“, meint Gesundheitsökonom Karl Lauterbach.
Zwei erwünschte Nebeneffekte: Mehr Mütter können berufstätig sein. Zudem werden die Kinder im Schnitt gesünder ernährt, lernen das richtige Essverhalten – und leiden später seltener an chronischen Krankheiten.
Eine große Reform ist überfällig, meint das Expertenteam. Denn langfristig seien es vor allem Produktivität und Innovation, die den Standort sichern. Die wenigen Kinder, die noch geboren werden, müssten also besonders gebildet und ideenreich sein. „De facto sind unsere Kinder immer kränker. Sie lernen schlecht und haben wenig Aufstiegschancen“, sagt Lauterbach.
Etwa 12 Milliarden Euro jährlich werde allein die Bildungsreform für die unter Zehnjährigen kosten, haben die Experten errechnet. Dies wird allerdings zum Teil kompensiert: Mehr arbeitende Mütter bedeuten mehr Steuern und Sozialabgaben und geringere Ausgaben für Sozialhilfe. „Aber machen wir uns nichts vor: Zunächst müssen wir Milliarden Steuergelder investieren“, sagt Lauterbach.
Die Finanzen seien kein Knock-Out-Kriterium, meint jedoch die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning: „Die Erfahrung lehrt mich: Wenn Land und Bund wirklich überzeugt sind, dass eine Reform notwendig ist – dann lassen sich auch Gelder locker machen.“ Sie kritisiert die Verteilung der Gelder im derzeitigen System: „Je älter ein Kind ist, desto mehr Lohn erhält der, der es ausbildet. Dabei ist längst wissenschaftlich belegt, dass sich gerade bei kleinen Kindern jeder eingesetzte Euro überdurchschnittlich rentiert.“
Auch Lauterbach ist sich sicher: „Unser Konzept ist ohne Alternative.“ Dass es umgesetzt wird, könne er nur hoffen. Catenhusen zumindest beließ es erst einmal bei einem vagen Lob: Das Papier sei „sehr spannend, hilfreich und visionär“.
COSIMA SCHMITT