: Ein Junge kennt keinen Schmerz
Sexueller Missbrauch an Jungen mag kein Tabu mehr sein. Wie er sich aber auswirkt und wie damit umzugehen ist, das wissen die wenigsten. Bei missbrauchten Jungen lösen Schmach und Scham Rollenkonflikte aus. Denn in dieser Gesellschaft gilt ein erniedrigter Mann nicht als männlich
VON WALTRAUD SCHWAB
Der neunjährige Pascal* wurde missbraucht. Sprechen kann er nicht darüber, wohl aber kann er seine Erlebnisse zeichnen. In der Therapiestunde bei Fred Meyerhoff, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut der Berliner Einrichtung „Kind im Zentrum“, entsteht sein Bild: Mit Wucht versetzt darauf ein Riese einem Zwerg einen Fußtritt. „Udo* Zex mit Menner“ steht in einer Luftblase über dem Zwerg, der getreten wird. Udo* – der Vergewaltiger – hat Sex mit Männern, heißt das. Der angreifende Riese aber, der will Pascal selbst sein. Befreiungsschlag und Rachegedanken eines Neunjährigen, der schon als kleiner Junge sexuell missbraucht wurde. Auf dem Bild ist das Kind größer und mächtiger als sein Vergewaltiger; die Wirklichkeit sieht für Pascal jedoch ganz anders aus. In ihm toben Gefühle, die nicht zusammenpassen wollen: Scham, Schuld, Hass, Zuneigung, Erniedrigung.
In der Entwicklungspsychologie wird davon ausgegangen, dass Kinder bis zum Alter von fünf Jahren alle Gefühlserfahrungen, die zur Bildung eines stabilen Ichs notwendig sind, durchlaufen haben. Werden sie in dieser Zeit traumatisiert – und Missbrauch, auch bei so kleinen Kindern, führt zu Traumatisierung – nimmt ihre emotionale Entwicklung großen Schaden.
„Kind im Zentrum“ gibt es seit 1986 in Berlin. Neben den überlasteten Familienberatungsstellen und Jugendämtern der Bezirke ist es die einzige Anlaufstelle, an die sich missbrauchte Jungen wenden können. Wenn „sich an jemanden wenden können“ für Kinder nur so einfach wäre. Denn in der Regel nutzen Missbraucher alle Möglichkeiten, ihre Opfer durch eine Mischung aus Gewalt, Erpressung, Drohung und Verführung zum Stillhalten zu bringen. Wie sollen die Kinder da wissen, dass sich jemand für das interessiert, was ihnen passiert? Meist glauben sie ohnehin, sie seien die einzigen auf der ganzen Welt, die so etwas erleben. Hinzu kommt, was missbrauchte Kinder und Jugendliche immer wieder bestätigen: Obwohl sie ahnen, dass das, was die Erwachsenen mit ihnen machen, falsch ist, glauben sie doch, dass sie schuld daran sind.
Wenn die Kinder bei „Kind im Zentrum“ ankommen, ist der Missbrauch „offiziell“. Jemand hat etwas bemerkt. Polizei oder Jugendämter sind eingeschritten wie bei Pascal. Er begann in der Schule sein Verhalten zu sexualisieren. Für einen Neunjährigen ungewöhnlich. „Wir kriegen hier nur die Spitze des Eisberges mit“, sagt Meyerhoff. „Da, wo extreme Gewalt und auch Lieblosigkeit einen Teil des Missbrauchs ausmachen. Die so betroffenen Kinder setzen in ihrer Not die stärksten Zeichen.“
Im Jahr können ungefähr 100 Kinder und Jugendliche bei „Kind im Zentrum“ langfristig therapeutisch betreut werden. Wird berücksichtigt, dass jedes vierte bis sechste Mädchen, jeder sechste bis dreizehnte Junge betroffen ist, wird das Ausmaß der unaufgedeckten Fälle deutlich. Die Statistiken, die zu sexuellem Missbrauch vorliegen, variieren stark. Nicht nur über die Zahl der Opfer, auch über die Täter gibt es unterschiedliche Angaben. Bei Mädchen wird davon ausgegangen, dass die Täter sich mehrheitlich aus dem Familienkreis rekrutieren. Bei einer Aufdeckung des Missbrauchs wird den Mädchen von daher nicht selten die Verantwortung für die Zerstörung der Familie mit auferlegt. Bei Missbrauch an Jungen dagegen seien es mehr bekannte – aber nicht familienbezogene – Täter. Die Familien blieben von daher als schützende Einheit erhalten, wird in der pädagogischen Literatur gefolgert. Betroffenenorganisationen aber widersprechen. Auch Fred Meyerhoff gibt zu bedenken, dass Jungen, die außerhalb der Familie über lange Zeiträume missbraucht werden, innerhalb der Familie wohl kaum Unterstützung, Schutz und Zuneigung erfahren oder erfahren haben.
Ebenfalls sehr unterschiedliche Zahlen kursieren zum Geschlecht der Täter. Bei den Kindern, die von „Kind im Zentrum“ betreut werden, geht der Missbrauch oft mit grober physischer Gewalt einher. Damit wird erklärt, dass bei den dort Betreuten die Missbraucher nahezu ausschließlich männlich waren. Sind die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst männlich, geschieht der sexuelle Übergriff in einem gleichgeschlechtlichen Kontext. Bei Jungen – und oft auch ihren Angehörigen – resultiert daraus eine Angst, die scheinbar alles andere überwiegt: die Befürchtung nämlich, schwul geworden zu sein. „Bin ich denn Mutter? Sehe ich wie Mutter aus?“, wird Meyerhoff von den Jungen manchmal gefragt.
„Bei Jungen löst die Schmach, die mit dem Missbrauch einhergeht, Rollenkonflikte aus“, erklärt der Therapeut. Die heterosexuelle und männerdominierte Gesellschaft, mit der sich die männlichen Jugendlichen zu identifizieren lernen, nimmt einem erniedrigten Mann seinen Männlichkeitsstatus. Dies wollen schon kleine Jungs nicht auf sich sitzen lassen. „Neben Kindern, die sich komplett abkapseln, gibt es auffallend viele missbrauchte Jungen, die deshalb starke Aggressivität zeigen und selbst gegenüber Jüngeren oder Mädchen übergriffig werden. Sie wollen sich und den anderen ihre männliche Überlegenheit beweisen“, so Meyerhoff. Die Beratungsstellen, die mit sexuell missbrauchten Jungen arbeiten, müssen sich von daher fast zwangsläufig auch mit jugendlichen Tätern beschäftigen. „Viele ‚Opfertäter‘ meinen, dass sie qua ihres Geschlechts die Verfügungsgewalt über Frauen und Kinder haben“, sagt Meyerhoff.
Jährlich melden sich bei „Kind im Zentrum“ fast 1.200 Menschen. Betroffene, Familienangehörige und Fachkollegen aus anderen Organisationen. Die Beratungsstelle ist zum wichtigsten Ansprechpartner in Fragen des Missbrauchs an Jungen in Berlin und Brandenburg geworden, Anfragen kommen aus dem ganzen Bundesgebiet. Durch den familienorientierten Ansatz werden bei „Kind im Zentrum“ nicht nur Programme mit Eltern betroffener Kinder, sondern auch mit Inzesttätern und Pädophilen durchgeführt. Die Kritik, der sich das Projekt infolgedessen aussetzen muss: Durch die Arbeit mit den Tätern provoziere es Loyalitätskonflikte bei den Opfern.
Viele Faktoren spielen bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs eine Rolle. Die Art der sexuellen Handlung mit Penetration als gravierender Schädigung steht nicht allein im Vordergrund. Gewaltandrohung und -anwendung sowie die Dauer und Häufigkeit der Übergriffe gehören dazu. Ebenfalls von Bedeutung ist die Beziehung, die Opfer und Täter miteinander haben. Je näher sie sich sind, desto schwieriger ist die Aufarbeitung. Hinzu kommt, dass bei Jungen die sexuelle Manipulation dazu führen kann, dass diese eine Erektion haben. „Es gefällt dir. Ich kann es doch sehen“, sind manipulative Standardsätze von Missbrauchern. Last und Lust ist für die Kinder nicht mehr zu trennen. Damit aber werden sie erpressbar.
Missbrauch an Jungen stellt Hierarchie- und Sozialisationsmodelle der Gesellschaft in Frage. Daran offenbaren die gesellschaftlichen Rollenmuster, Machtstrukturen und Geschlechterverhältnisse ihre misslungenen Seiten. Eine Fülle von Glaubenssätzen, die in den Therapien zutage gefördert werden, verdeutlichen dies: „Ein Mann zeigt keine Gefühle! Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Unterlegene verspielen ihre Männlichkeit! Homosexuelle sind keine Männer! Gewalt ist legitim!“, zählt Meyerhoff auf. „Dazu kommen Haltungen wie etwa, dass Manipulation als etwas Selbstverständliches erlebt wird, dass die Autorität des Erwachsenen als Freibrief gilt, dass Zuneigung verhandelbar ist und dass Herabsetzung anderer das Selbstwertgefühl stärkt.“
Von sexueller Gewalt betroffene Jungen nehmen bei all den weit verbreiteten Pseudowahrheiten die Rolle der Versager ein. Um den Missbrauch verarbeiten zu können, müssen sie Gegenmodelle dazu entwickeln. Erst wenn ein Junge schwach sein darf, Gefühle und Schmerz zum Ausdruck bringen kann und wenn er verstanden hat, dass die Gewalt Erwachsener den Kindern gegenüber nicht gerechtfertigt ist, wird er sich selbst wieder wertschätzen können. „Sexueller Missbrauch an Jungen stellt die Emanzipationsfrage an die Männer“, sagt Meyerhoff.
Thomas Schlingmann kann dies nur bestätigen. Er hat vor neun Jahren in Berlin „Tauwetter“ mit gegründet. Bei dieser Selbsthilfeorganisation treffen sich erwachsene Männer, die als Kinder sexuell missbraucht wurden. Der 45-jährige Schlingmann ist einer von ihnen. „Meine Erfahrungen sind meine Qualifikation für die Arbeit“, sagt er. Ähnlich wie bei den „Wildwasser“-Gruppen, wo vor etwa 25 Jahren betroffene Frauen das Tabu vom Missbrauch an Mädchen gebrochen haben, tritt auch bei „Tauwetter“ die Welt der Dunkelziffer an die Öffentlichkeit. Denn jedes von sexueller Gewalt betroffene Kind – gleich ob Junge oder Mädchen – wird ganz instinktiv versuchen, den Missbrauch ungeschehen zu machen. Gibt es dafür keine praktikablen Möglichkeiten, bleibt Verdrängung, Verleugnung und Vergessen. Das Abgespaltene jedoch bricht sich im Erwachensenalter immer wieder Bahn. Nicht selten als großes Unglücklichsein. Bei Tauwetter treffen sich Männer zwischen 16 und 60, die ihr Leid endlich verstehen möchten.
Genau zu sagen, wie sich verdrängter Missbrauch auswirkt, sei schwierig. Dennoch stellt Thomas Schlingmann immer wieder fest, dass betroffene Männer in die Aggression und die Autoaggression flüchten. Im Gegensatz zu Frauen, die sich oft Schnittwunden zufügen oder medikamentenabhängig werden, schinden Männer ihren Körper eher durch Extremsportarten, durch Alkohol oder Schlafentzug. Für alles werde krasse Lösungen gesucht. Eine Balance ist nicht vorhanden. Unter Häftlingen und in der Stricherszene sind viele, die Missbrauchserfahrungen haben. Letztere wurden möglicherweise schon als Kinder dafür belohnt, dass sie sexuelle Übergriffe zuließen.
Bei „Tauwetter“ werden Selbsthilfegruppen initiiert, Informationsveranstaltungen an Schulen und Elternzentren organisiert. Auch die bundesweite Vernetzung lastet auf den vier Ehrenamtlichen. In der Alternativfabrik „Mehringhof“ haben sie ihr kleines Büro. Dort wurden in den letzten neun Jahren mehr als 2.000 Telefonberatungen oder Direktgespräche mit Betroffenen geführt. Mit nur 500 Euro öffentlichem Zuschuss pro Monat wird Steinbrucharbeit geleistet. Weil bei Tauwetter vor allem der verdrängte Missbrauch zum Thema wird, verschiebt sich – für Schlingmann wenig überraschend – die Statistik des Tätergeschlechts: Bei circa jedem vierten Ratsuchenden waren Frauen am Missbrauch beteiligt. Die Dramen der psychischen und physischen Vereinnahmung seitens der Mütter, die manche Söhne erleben, werden mit an die Oberfläche gespült. Sexueller Missbrauch stellt in der Tat die Emanzipationsfrage.
* Namen geändert
„Kind im Zentrum e.V.“, Tel: 0 30-2 82 80 77, www.tauwetter.de