peter unfried über Charts : Jenseits von Eden
Kalifornisches Tagebuch (III): Auf den Spuren von Mord, Kopfsalat und Nobelpreisträger John Steinbeck in Salinas
Santa Cruz, Kalifornien. Wir fuhren aus zwei Gründen nach Salinas. Erstens wegen des Steinbeck-Museums. Der Literatur-Nobelpreisträger John Steinbeck (1902–68) war in diesem Sommer völlig überraschend auf der Nummer 1 der New York Times-Charts und damit ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt, nachdem Fernsehtante Oprah Winfrey „Jenseits von Eden“ empfohlen hatte. Das Buch ist 51 Jahre alt, etwas biblig und schwulstig, aber Oprah ist halt die US-amerikanische XXL-Version von Elke Heidenreich: In drei Wochen waren über 800.000 Exemplare verkauft. Zweitens kam regelmäßig in den lokalen Spätnachrichten neben dem üblichen Nichts ein Bericht über eine wilde Schießerei in Salinas. Meistens Gang-Rivalitäten. Aber auch: Junge steht mit seiner Freundin vor dem Haus. Peng: Kleinkaliber in die Brust.
Wir leben in Santa Cruz trotz omnipräsenter Polizei in einer Idylle: Collegetown, Surf City, lebendige Innenstadt, fair gehandelter Kaffee, anti Bush sowieso, vereinzelt sogar pro Fahrrad. Also: Realitäts-Check. Erst mal nachschauen: Aha, Salinas, 144.000 Einwohner, zweitgrößte Stadt zwischen Los Angeles und San Francisco, keine Uni, über 50 Prozent Latinos. Wir biegen in Monterey Richtung Osten ab, immer dem Gemüse nach. Riesige Felder, permanent bewässert: Erst kommen Artischocken, dann kommt Kopfsalat. Wer sich für agrikulturelle Details interessiert: In Salinas werden 80 Prozent des Kopfsalats der ganzen USA angebaut.
Am Ortseingang gibt es zwei Schilder: Auf dem einen steht „Downtown“, auf dem anderen „National Steinbeck-Center“. Es stellte sich heraus: Downtown ist offenbar das Center. Ansonsten: kein Mensch, kein Hund. Nicht mal eine Polizeisirene. Wie angesagt eine Stadt oder Einkaufsstraße ist, erfährt man oft allein durch die Höhe der Parkgebühren. In „Historic Oldtown“ Salinas ist Parken kostenlos. Wir gingen erst mal an der Steinbeck Federal Union Bank vorbei ins Coffeehouse und tranken den üblichen Eimer Kaffee. „Steinbeck-Blend“. Schmeckte wie immer.
„Was ist denn an dem Kaffee der Steinbeck-Geschmack?“
Die Bedienung: „Nichts. In Salinas ist halt alles Steinbeck.“
So sehr verehren die Menschen den größten Sohn der Stadt?
Tja, sagte die Bedienung, es sei ziemlich „funny“.
„Früher haben sie ihn gehasst.“
Die alte Geschichte: Steinbecks wichtigstes Werk „Früchte des Zorns“ thematisierte die Ausbeutung der Landarbeiter auf den Kopfsalatfeldern. Das wurde von Salinas und seinen Landwirtschaftsbossen gar nicht goutiert. Dass er das Salinas-Valley auf die Landkarte geschrieben hatte? Vergessen. Man hieß ihn das Übliche: Sozialist, Kommunist, Drecksack. Man beschloss, die Welt und vor allem die Kinder vor ihm zu schützen. Unglücklicherweise bekam Steinbeck 1962 den Nobelpreis.
Später baute man im benachbarten Monterey den Tourismus auf seine Dosenfischindustrie-Hommage „Cannery Row“ auf. Das traurige Castroville nebenan wurde „Artischocken-Hauptstadt“. In Gilroy, 20 Meilen nördlich, erwarb man sich den Titel der „Welthauptstadt des Knoblauchs“. Jede Nase, die dort war, muss zugeben: Völlig zu Recht.
Und die Metropole Salinas? „Die Salatschüssel der Welt“, ein Rodeo im Juli, die Wahl der „Kopfsalat-Königin“. Na ja. Also große Versöhnung und 1998 Eröffnung des Centers. Die Schulen führen Steinbeck-Stücke auf. Die Kinder müssen jetzt Steinbeck lesen – in der Schule. Zum Steinbeck-Festival kommen sogar Japaner. Damit, sagt Tom vom Lokalblatt The Californian, stehe man jetzt doch ganz anders da. Außerdem hat der Californian immer was zu schreiben.
Ihr habt doch eure Schießereien, sagte ich.
Okay, wenn Tom ausgehen will, fährt er auch nach Monterey. Aber elf Tote in acht Monaten, das sei doch nicht schlecht. Echt? Ich googlete das nach: Tatsächlich. Oakland zum Beispiel ist größer, hat aber im Jahr über hundert. Als am Abend von dem Mann berichtet wurde, der in Salinas den Müll rausbrachte und eine herumirrende Kugel abbekam, winkte ich nur ab.
*
Was das Steinbeck-Center selbst betrifft, so gibt es Kritiker, die es, nun ja, „zu wenig wissenschaftlich“ finden. Aber das ist elitär. Und ungerecht. Das merkte ich, als gestern mal wieder die Frage aufkam, warum meine Kinder eigentlich zwei Omas, aber nur einen Opa haben.
„Der andere ist gestorben, Kinder.“
Ob er im Himmel sei? Sicher.
„Wie Steinbecker?“
Richtig. Wie John Steinbeck.
„Und die Maus?“
Hä? Welche Maus?
Wie jeder mausinteressierte Besucher des National Center weiß, handelt es sich um jenes Tier, das in der Eingangszene von Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ in der Jackentasche der Hauptfigur zu Tode kommt. Das zeigt mal wieder, wie bewundernswert unprätentiös sich amerikanische Museen um den Nachwuchs kümmern. Übrigens: Ganz besonders lieben lernen Literaturwissenschaftler unter fünf Jahren Steinbecks Erzählung „Der (sic!) rote Pony“. Das Pony ist aus Holz, rot angemalt, und man kann draufsitzen. Davon reden sie heute noch.
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