: Anfallartig böses Erwachen
So hurtig, wie sie bislang rannte, macht sich Sprint-Weltmeisterin Kelli White nach ihrem positiven Doping-Befund auf die Suche nach Erklärungen und wird fündig in der familiären Krankengeschichte
aus Paris FRANK KETTERER
Es war noch auf der roten Bahn des Stade de France, als Kelli White mit einem Schlag alle Kraft aus den schnellen Beinen wich. „Ich bin nur noch müde und leer“, sagte sie, das Banner mit den Stars and Stripes noch auf den Schultern tragend, und zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand im Oval ahnen, dass die tiefe Erschöpfung keineswegs nur vom vorangegangenen Spurt über 200 m herrührte, den die 26-jährige Sprinterin aus Union City, Kalifornien, als Weltbeste beendet hatte, sondern von der in der Familie White grassierenden Narkolepsie, einer Krankheit, die sich unter anderem in anfallartigen Einschlafattacken von meist nur wenigen Minuten Dauer niederschlägt.
Bekannt wurde dieses unschöne Leiden der Weltmeisterin über 100 und 200 m, das nach neuestem Stand der Wissenschaft behandel-, aber nicht heilbar ist, nämlich erst zwei Tage später, also am Samstag – und eher unfreiwillig: L’Equipe hatte die Nachricht exklusiv verbreiten dürfen, dass in Frau Whites Urin nach ihrem Sieg über 100 m etwas gefunden wurde, was dort eigentlich nicht hineingehört, eine Substanz namens Modafinil nämlich. Der psycho-stimulierende Wirkstoff gilt Nachtschwärmern als Partydroge, ist als Wachmacher aber auch unter Piloten, Fernfahrern und Soldaten bekannt; Narkolepsie-Kranke wiederum nehmen den Wirkstoff Modafinil in dem Medikament Provigil zu sich.
Da ist es wirklich gut, dass Frau White plötzlich eingefallen ist, dass auch sie unter dem plötzlichen Sekundenschlaf leidet, so wie statistisch gesehen jeder 1.000. Mensch auf diesem Planeten. Nicht gut hingegen ist, dass sie sich erst nach Bekanntwerden der positiven A-Probe an ihre Krankheit erinnert hat und daran, dass sie bisweilen Modafinil zu deren Bekämpfung zu sich nehmen muss, weil es ihr Hausarzt so aufs Rezept geschrieben hat. Und richtig schlecht ist, dass Frau White Krankheit samt Modafinil-Genuss nicht bei der IAAF angegeben hat, dem internationalen Verband. Jetzt sieht es nämlich verdammt danach aus, als habe Frau White Böses getan und ihre Erkrankung anschließend nur erfunden, zur Rechtfertigung. Aus Kelli White, der schnellsten Frau der Welt, ist jedenfalls der Dopingfall Kelli White geworden, plötzlicher, als jeder Schlaf über den Narkoleptiker fällt. Der WM hat das zwei Tage vor ihrem Ende einen handfesten Dopingskandal beschert.
Dass Kelli White, die seit zwei Jahren die Lebensabschnittsgefährtin des deutschen Speerwerfers Boris Henry ist, sich zu Unrecht des Betrugs verdächtigt fühlt, liegt nur in der Natur der Sache, alle Dopingsünder behaupten das von sich (man denke da nur an den deutschen Sündenfall Dieter Baumann). Kelli White hat am späten Samstagabend eigens die Weltpresse zu einer Konferenz zusammengerufen, um die Version ihrer Unschuld unters Volk zu streuen. Die geht, zusammengefasst, so: „Ich bin unschuldig.“ Im erweiterten Detail: Mehrere Mitglieder der White-Sippe werden seit Jahren gegen Narkolepsie behandelt, auch bei Kelli habe der Hausarzt, der nette Dr. Goldman aus San Francisco, die Krankheit diagnostiziert: Seit „ein paar Monaten“ nehme sie „in unregelmäßigen Abständen“ – so auch vor dem 100-m-Finale – das Medikament Provigil ein, allerdings nicht um ihre Form unfair zu verbessern, sondern ausschließlich um ein „normales Leben“ führen zu können. Im Übrigen stehe weder das Medikament Provigil noch der Wirkstoff Modafinil bei der IAAF auf der Liste der verbotenen Mittel. Weil es dort nicht steht, habe sie auch nicht wissen können, dass sie die Einnahme bei der IAAF hätte angeben und genehmigen lassen müssen. Und überhaupt: Ihre Krankheit sei ihre Privatsache.
Arne Ljungqvist scheint das differenzierter zu betrachten. „Modafinil ist ein Stimulans, das steht fest“, sagt der für Dopingfragen zuständige Vizepräsident des Weltverbandes – und damit prinzipiell verboten, egal ob es auf der schwarzen Liste namentlich aufgeführt wird. Dafür hat die Welt-Doping-Agentur Wada eigens den Begriff der artverwandten Substanzen eingeführt. Modafinil, so Ljungqvist, unterscheide sich in der Wirkung nur unwesentlich von Amphetaminen, das reicht aus, um als artverwandt zu gelten. Ljungqvist sagt: „Wir hatten bereits Hinweise, dass Modafinil im Sport missbraucht wird.“ Bis zu den Olympischen Spielen nächstes Jahr soll der Stoff auch namentlich auf die Verbotsliste gesetzt werden. Was White zudem nicht gerade unverdächtiger macht, ist der Umstand, dass sie bereits vor gut einem Jahr ebenfalls in Paris auf gar nicht unähnliche Weise auffällig geworden war. Damals war sie wegen einer angeblichen Sehnenverletzung mit Corticoiden im schnellen Körper unterwegs gewesen, eingenommen per ebenfalls nicht angegebenem Schmerzmittel. Die Sache scheint also System zu haben bei White. Damals hat die IAAF das von ihr nachgereichte Attest akzeptiert und den Vorfall für nichtig erklärt, immerhin vom französischen Verband aber war die Amerikanerin frankreichweit bis Ende Juni gesperrt.
Was für eine Strafe diesmal auf Kelli White wartet, scheint derzeit noch offen – und ist abhängig, welcher Doping-Klasse Modafinil, das als Betrugsstoff im Sport noch relativ neu zu sein scheint, zugeordnet wird. „Wir müssen noch wissenschaftlich klären, ob es zu den weichen oder den ernsthaften Stimulanzien gehört“, sagt Ljungqvist, was in Paris nicht mehr möglich gewesen sei. In ersterem Fall würden Kelli White ihre WM-Titel aberkannt und eine Verwarnung ausgesprochen, was gerade noch als blaues Auge durchgehen könnte; in letzterem droht ihr Medaillenverlust samt Zweijahressperre. Bis zur endgültigen Klärung der Causa gilt die 26-Jährige als startberechtigt, auch im Staffelfinale am Samstag hätte sie laufen dürfen. Getan hat sie es freilich nicht, schon wegen der Gefahr, dass der USA nachträglich auch noch diese Silbermedaille aberkannt wird.
Möglich ist freilich auch, dass Frau White eine Krankenakte anschleppt, in der steht, dass sie tatsächlich an Narkolepsie leidet. So schwer wird so ein Dokument im Wilden Westen schon nicht aufzutreiben sein. Oder Rechtsanwälte entdecken einen Verfahrensfehler. Gerade der amerikanische Verband, der White letztendlich sperren müsste, gilt darin als äußerst erfindungsreich; zum Beispiel könnte er in Zweifel ziehen, dass der Begriff „artverwandte Substanzen“ tatsächlich zutrifft auf Modafinil, so was in der Art eben. Auf jeden Fall wird die Sache die Leichtathletik-Welt noch eine Weile in Atem halten, da sind sich die Experten sicher. „Wir werden den Fall hier in Paris nicht mehr entscheiden können“, hat auch IAAF-Vize Arne Ljungqvist am Samstag gesagt. Man sollte die Entwicklung der Dinge gut beobachten. Mit wachem Auge!