„Es gibt keine Ethik im Islam“

Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban bearbeitet das Thema Homosexualität und Islam: Schwule, Lesben und Frauen werden gleichermaßen unterdrückt. Für einen modernen Islam bedarf es eines neuen selbstständigen ethischen Systems

Interview ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Heute Abend gibt es einen der ersten öffentlichen Vorträge in Berlin über das Verhältnis des Islams zur Homosexualität. Was sagt der Koran dazu?

Ralph Ghadban: Im Koran gibt es keine klare Aussage zur Homosexualität. Die Geschichte von Sodom und Gomorrha, die auch in der Bibel vorkommt, wird im Koran mehrmals erwähnt. Es gibt zudem einen Vers, der dahingehend interpretiert wird, dass er sich vage mit Homosexualität befasst.

Was bedeutet das? Gleichgültigkeit gegenüber Homos?

Nein, es bedeutet, dass das Problem als solches nicht existierte. Es gibt aus der unmittelbaren Zeit des Propheten einfach keinen Präzedenzfall. Als der erste Kalif Abu Bakr einen solchen Fall zu richten hatte, war er zunächst ratlos. Er berief sich dann auf die Sodom-Geschichte und ordnete die Verbrennung der schwulen Delinquenten an, weil ja auch die sündige Stadt von Gott zerstört wurde.

Tatsächlich werden Homosexuelle in vielen islamischen Ländern nicht verfolgt.

Die Knabenliebe ist ja Bestandteil dieser Kultur. Mit der Expansion des ersten großen islamischen Reiches wurden Unmengen von Menschen zu Sklaven gemacht, Sklavenhalterei wurde gang und gäbe, die Knabenliebe wurde gang und gäbe. Das ging mit einer eher liberalen Haltung gegenüber der Homosexualität einher. Sie galt als Unzucht, die wiederum nach islamischem Recht nur mit Hilfe von vier männlichen muslimischen Augenzeugen anklagbar ist. Was praktisch unmöglich ist.

Was war der Grund für das gesellschaftliche Modell der geduldeten Männerliebe?

Die strenge Geschlechtertrennung. Mit der Herausnahme der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben, ihrem Wegsperren und Verschleiern, was rund 100 Jahre nach dem Propheten zur Norm wurde, ergab sich ein Vakuum, in dem sich die Knabenliebe massenhaft etablierte.

Damit erkennt der Islam homosexuelle Liebe lediglich als Notlösung, nicht aber als eine Lebensform an.

Ja, und weil es plötzlich ein soziokulturelles Phänomen solchen Ausmaßes wurde, war es nicht mehr möglich, jeden Einzelnen so drastisch zu bestrafen.

Die strenge Geschlechtertrennung besteht bis heute, aber die Knabenliebe ist keine Alternative mehr. Wie geht der Islam heute mit Homosexuellen um?

Heute wird die Päderastie nach wie vor weitgehend als Kavaliersdelikt betrachtet. Außerdem wurde zum großen Teil europäisches Recht übernommen. Und in Europa wurde Homosexualität nie mit dem Tode bestraft. Allerdings war Homosexualität auch in Deutschland bis 1969 strafbar.

Wie erklären Sie dann die Hinrichtung von Homosexuellen in islamischen Ländern?

Das geschieht in Ländern, in denen die Islamisten regieren. In Saudi-Arabien und im Iran wurden in den letzten Jahrzehnten so viele Homosexuelle hingerichtet wie zuvor in der gesamten islamischen Geschichte nicht. Die Islamisten versuchen, eine Art von Islam zu etablieren, der eigentlich in dieser Rigidität so nie existiert hat.

Was heißt das?

Das sind Strömungen, die versuchen, die Moral gänzlich auf die Scharia, das islamische Recht, zu reduzieren, sie einfach wortwörtlich zu nehmen. Die Scharia fordert den Tod der Homosexuellen, aber das wurde in der muslimischen Welt zuvor gar nicht angewandt.

Können die hier lebenden muslimischen Schwulen und Lesben für sich eine liberale Haltung in Anspruch nehmen?

Wo die Islamisten das Sagen haben – und sie sind es ja, die den organisierten Islam dominieren – herrscht eine totale Ablehnung und Verurteilung der Homosexualität. So kommt es auch in Europa zu Hetzpredigten gegen Schwule in den Moscheen.

Gibt es einen theologischen Ausweg aus der Diskriminierung: etwas wie das Gebot der Toleranz, der Nächstenliebe?

Homosexuelle und Frauen werden im Islam ähnlich diskriminiert. Die Frauen versuchen da rauszukommen mit der feministischen Exegese, also der Neuinterpretation des Korans. Das versuchen Homosexuelle auch.

Am Beispiel der Frauen können wir sehen, dass es kaum wirkt.

Eine neue Exegese allein hilft nicht. Wichtiger ist es, ein ethisches System, unabhängig von der Scharia zu bilden, das die moralischen Werte beinhaltet. Daran arbeiten die Islamreformer.

Wollen Sie damit sagen, dass es im Islam keine Ethik gibt?

Streng genommen ja. Der Islam ist wie das Judentum eine Gesetzesreligion. Das ethische Verhalten besteht in der Befolgung des göttlichen Gesetzes, im Islam als Scharia bekannt. Das Christentum ist eine Gewissensreligion, der Mensch ist vor seinem Gewissen und Gott verantwortlich. Das irdische Gesetz wird von den moralischen Prinzipien inspiriert.

Ist im Islam von Bartstutzen bis BH-Tragen nicht alles ethisch gefärbt?

Ja, das islamische Recht erhebt den Anspruch, alles zu regeln. Selbst Fragen, die mit Moral nichts zu tun haben. Aber neben der Scharia finden wir einen Bereich der Religion, der die Beziehung des Menschen zu seinem Gott darstellt und von Gewissen und moralischen Werten geleitet ist. Er kollidiert oft mit der Scharia. Dieser Bereich wurde nicht zu einem selbstständigen ethischen System entwickelt. Eine Wissenschaft der Moral, eine Ethik finden wir im Islam und der islamischen Kultur nicht. Die Islamreformer wollen diesen Mangel beseitigen.

Wie kommt es, dass sich in der Migranten-Homo-Szene offenbar etwas bewegt und das Thema auf die Tagesordnung kommt?

Seitdem die liberale Gesetzgebung in Deutschland Veränderungen gebracht hat, zum Beispiel die Homo-Ehe, kommt auch bei den Migranten Diskussionsbedarf auf. Denn die haben meistens auch einen deutschen Pass. Sie möchten, dass ihre doppelte Problematik diskutiert wird. Zum einen als Homosexuelle. Sie haben Schwierigkeiten mit dem Islamismus in ihren hiesigen Parallelgesellschaften. Viele von ihnen sind ja auch religiös. Zum anderen haben sie als Migranten Schwierigkeiten mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft.