: Die kuschelweiche Supermacht
Joseph S. Nye ist der „vernünftige Amerikaner“, den man gern zu Podiumsdiskussionen nach Europa einlädt. Denn er wusste schon vor dem Irak-Debakel, dass die USA international so eingebunden sind, dass sie nicht mehr unilateral handeln können
von CLAUS LEGGEWIE
Globalisierung und Hegemonie vertragen sich schlecht – das ist die zentrale Aussage des amerikanischen Politologen Joseph S. Nye. Sein Buch erschien zu früh und zu spät: Konzipiert wurde es vor dem 11. September als „Weckruf“ an die Amerikaner, eine veränderte und vernetzte Welt zur Kenntnis zu nehmen – doch als der Weckruf nach den Terroranschlägen erklang, hatte die Regierung Bush schon auf politisch-militärische Alleingänge gesetzt. Nye konnte sie nicht zu mehr Multilateralismus bewegen, angesichts des sich abzeichnenden Irak-Debakels könnten seine Ratschläge aber noch einmal Gehör finden. Der Verfasser, derzeit Dekan der Kennedy School of Government in Harvard, ist nämlich nicht nur eine akademische Größe: Nachdem er schon in der Regierung Jimmy Carters gearbeitet hatte, spielte er als stellvertretender Verteidigungsminister unter Bill Clinton ungefähr die Rolle, die Paul Wolfowitz in der gegenwärtigen Regierung einnimmt.
Nye hat immer noch einen klangvollen Namen in der sicherheitspolitischen Beraterkultur, die heute jedoch eindeutig von Neokonservativen dominiert wird. Warnungen vor imperialer Hybris will man dort ebenso wenig hören wie diese Kernsätze Nyes: „Die Globalisierung – das Wachsen von Netzwerken weltweiter Interdependenz – setzt neue Themen auf die nationale und die internationale Tagesordnung, ob uns das gefällt oder nicht. Viele dieser Fragen können wir allein gar nicht lösen. Die internationale Finanzstabilität ist entscheidend für den Wohlstand der Amerikaner, aber wir brauchen die Kooperation anderer, um sie sicherzustellen. Auch der globale Klimawandel wird die Lebensqualität der Amerikaner tangieren, aber wir können das Problem nicht alleine lösen. Und in einer Welt, in der die Grenzen für alles Mögliche immer durchlässiger werden, für Drogen, Infektionen, Terrorismus, sind wir gezwungen, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten, hinter ihren Grenzen, innerhalb der unseren.“
Die Mehrheit der Amerikaner schließt sich diesem Plädoyer für Multilaterialismus an, in Europa setzt man ohnehin darauf – welche Leser hier soll das Buch also ansprechen? Nye ermuntert vor allem die „Atlantiker“, die Amerika von seinen Alleingängen abhalten wollen, auf seinen militärischen Schutz und seine politisch-kulturelle Hegemonie aber nicht verzichten möchten. Ihnen spricht der demokratische Politikberater aus dem Herzen: „Wenn wir unsere weiche Macht durch eine Mischung von Arroganz und Gleichgültigkeit verspielen, werden wir unsere Verletzbarkeit erhöhen, unsere Werte preisgeben und die Erosion unserer Vormacht beschleunigen.“ Freilich müsste man das selbstverständliche „Wir“ des Schreibers übernehmen. Stets geht es Nye um „Amerikas Zukunft“, und er setzt damit die Zukunft der westlichen Welt gleich, wobei er ohne eine einzige Quelle auskommt, die nicht aus einem heimischen Publikationsorgan stammt. Was man in Europa, Russland, Indien, Iran und so weiter (und womöglich nicht in Englisch) denkt, kommt in dem Standardwerk aus einer der wichtigsten Schools of Government nicht vor. So plädiert der Autor fast 300 Seiten lang für die Rückkehr zu Selbstverständlichkeiten, die man nur in Washington für „paradox“ halten kann.
Im Irak, wo Amerika auf militärische Mittel gesetzt und die Warnungen der Welt in den Wind geschlagen hat, tritt die Abhängigkeit der USA von anderen unterdessen dramatisch hervor. In der ziemlich uniformen Kommentarlage ist Nye eine moderat abweichende Stimme, aber was hat der Politikwissenschaftler über den Tag hinaus beizutragen? Nye forscht auf dem Gebiet der „Global Governance“, und zentral ist seine Machttheorie, in der „weiche Faktoren“ mehr wiegen als militärische und wirtschaftliche: „Überzeugen“ und „kooperieren“ sind wichtiger als „abschrecken“ und „zwingen“. Nye erkennt die darauf basierende Fähigkeit etwa der skandinavischen Staaten an, die auch ohne Militärapparat in der internationalen Arena erwünschte Wirkungen erzielen können.
Zusammen mit Robert Keohane hat Nye sich überdies als einer der Ersten mit den Folgen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien für die (internationale) Politik befasst, denen er die Möglichkeit zuspricht, „das Wesen von Regierung und Staatsgewalt“ zu verändern. Das Internet werde die Bedeutung der weichen Macht in der Außenpolitik noch steigern und Begriff wie Praxis nationalstaatlicher Souveränität radikal modifizieren – der nationale Staat wird supranational übergangen und subnational unterlaufen. Diese These löste vor fünf Jahren unter der von „Realisten“ beherrschten Politologenzunft noch Heiterkeit oder Kopfschütteln aus, mittlerweile hat sich die Weltpolitik durch neue Akteure wie Nichtregierungsorganisationen und andere transnationale Netzwerke privatisiert, woraus der Politikberater den Schluss zieht: „Unsere politische Führung wird es in Zukunft schwerer haben, ihre außenpolitischen Prioritäten auf kohärente Weise durchzusetzen […], Begriffe wie Unipolarität und Hegemonie werden einen hohlen Klang bekommen.“
Nye ist damit kein Dissident, sondern ein Patriot, der auch gegen Alleingänge nichts hat, solange sie sich nicht zur einem unilateralistischen Muster verfestigen. Im Kapitel zur „Globalisierung“ kritisiert er, dass die USA sich notorisch gegen multilaterale Institutionen und Kontrollen sperren; und in einem weiteren Kapitel verabschiedet er „nationale Werte“, die auf der Vorstellung amerikanischer Einzigartigkeit beruhen. Ethnozentrische Interessenpolitik passe nicht mehr in die informationstechnisch vorangetriebene Entgrenzung der Welt.
Solche Sentenzen haben Nye vor allem in Europa zu einem gefragten Kommentator gemacht; er gibt den Part des „vernünftigen Amerikaners“, mit dem ein transatlantischer Neubeginn möglich wäre. Es ist nicht seine Schuld, wenn sich die von anderen Denkschulen beratene US-Regierung unbeeindruckt von solchen Warnungen zeigt; allerdings hätte der Politikwissenschaftler einarbeiten können, wie die US-Regierung nach dem 11. September in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit eine radikal entgegengesetzte Strategie eingeschlagen hat, die Amerikas Vernetzung kappt und aus den Vereinigten Staaten, eigentlich zum ersten Mal in ihrer Geschichte, einen repressiven und autoritären Nationalstaat zu machen droht.
Joseph S. Nye: „Das Paradox der amerikanischen Macht. Warum die einzige Supermacht der Welt Verbündete braucht“, übersetzt v. Joachim Kalka, 292 S., EVA, Hamburg 2003, 19,90 €