Die Schnur ins Leben

Die Literatur und ihre unendlich vielen Möglichkeiten: „Der singende Baum“, ein vielschichtig grandioser Roman des australischen Autors Tim Winton

VON KATHARINA GRANZIN

Wie weit entfernt ist doch Australien! Da lebt auf jenem fünften Kontinent ein Mann, der, 42 Jahre alt, in den letzten zwanzig Jahren ungefähr ebenso viele Bücher veröffentlicht hat und zu den großen Literaturstars seines Landes gehört – und hierzulande kennt ihn kaum jemand. „Der singende Baum“, kürzlich erschienen, ist erst der zweite Winton-Titel, der überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde. Ist uns Australien denn wirklich so fremd?

Vielleicht schon. Und doch ist Wintons Roman grandiose Sehnsuchtsliteratur, die einerseits, naturselig, seelensuchend, dem Bedürfnis der zivilisationsgeschädigten Mitteleuropäer nach Naturromantik scheinbar bereitwillig entgegenkommt. Auch der Titel der deutschen Übersetzung unterstützt eine ätherisch-romantisierende Deutung. Im Original aber singen die Bäume nicht. Der Titel „Dirt Music“, schwer zu übertragen, deutet ein viel archaischeres Muster an, ein noch rohes, unvermitteltes Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Wintons Roman führt seinen Helden in die Inselwildnis Nord-Australiens und wirft ihn so weit zurück auf null, wie es eben geht. So weit „back to the roots“ kann auch Literatur nur gehen, wenn die Landschaft es erlaubt. Australien ist weit.

Die Geschichte von Luther Fox, dem Musiker, der die Musik verloren hat, beginnt mit der Frau, in die er sich verliebt. Ein bewegtes Leben hat Georgie Jutland in das westaustralische Fischerdorf White Point gespült, wo sie ein unerfülltes Dasein als Gefährtin des mächtigsten Fischers am Ort fristet. Hart ist das Leben, hart sind vor allem die Menschen an dieser Küste, allesamt Fischer, die sich für viel Geld ihre Pfründen gesichert haben, das Meer als ihr Eigentum betrachten und Außenseiter gnadenlos fertig machen. Luther, der heimlich nachts fischen geht, spielt daher mit seinem Leben, und Georgie, die das illegale Treiben des Unbekannten beobachtet, jedoch Schweigen darüber bewahrt, macht sich des Hochverrats schuldig. Ein Zufall führt die beiden Outlaws zusammen und eine Liebesgeschichte beginnt, durch die die fragile Grundlage beider Existenzen ins Trudeln gerät. Luther wird unvorsichtig. Beim wilden Fischen entdeckt, kann er nur knapp sein Leben retten. Kurz danach verschwindet er. Georgie, die trotz allem weiter neben Jim, dem Fischer, daherlebt, erhält später mit der Post einen leeren Briefumschlag mit rotem Staub und dem Poststempel der nordaustralischen Stadt Broome.

So weit spielt der Roman überwiegend Melodram. Im Folgenden changiert er vor allem zwischen Road Movie und Abenteuergeschichte, weckt Assoziationen an „On the Road“, „Robinson Crusoe“, „Der englische Patient“, an Castaneda und andere, schleppt einen riesigen bunten Ballen literarischen Garns mit sich, dessen Fäden er mal lose vor sich hin spinnt, dann träumerisch miteinander verzwirbelt und zum Schluss in einem phantasmagorischen Farbstrudel aufgehen lässt, in dem man kaum mehr weiß, wo oben und unten ist. Es ist dem Roman nicht anzumerken, dass Winton ihn von seiner ursprünglichen Form um mehr als die Hälfte gekürzt hat, doch man kann sich vorstellen, wie viele Geschichten noch darin gewuchert sein müssen, links und rechts vom Weg, den Luther Fox nach Norden, auf die einsamste aller Inseln, zurücklegt. Wenn Luther am Schluss, verwildert, stinkend, abgemagert, auf einer straff gespannten Nylonschnur die Musik wiederfindet, dann findet er auch darin vor allem Geschichten; Geschichten, die ihm Stück für Stück sein Leben wiedergeben. Nicht allein die Natur, nein, dieses bisschen Schnur als bescheidene Stellvertreterin der menschlichen Kultur ist es, das ihn wieder zu sich geführt hat. Das Leben in der Wildnis aber wird Luther vielleicht das Leben kosten. Oder besiegt die Liebe alles?

Winton findet einen genialen Ausweg aus dem Dilemma dieses Romans, das darin besteht, dass einerseits jedes Happy End zu trivial wäre nach Luthers komplizierten Irrwegen, das Gegenteil aber wirken müsste wie eine allzu ungerechte Bestrafung des Helden, mit dem man sich schließlich bedingungslos identifiziert (Georgie, aus deren Perspektive der Roman zu Anfang erzählt wird, schrumpft mehr und mehr zur bloßen Nebenfigur). Grandios pathetisch, hochdramatisch und surreal übersteigert ist das Finale, das Winton anbietet. Dies ist eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte, mag das heißen. Wenn sie für euch ein Happy End ist, bitte schön. Dies ist Australien, und die Literatur hat unendlich viele Möglichkeiten.

Tim Winton: „Der singende Baum“. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand, München 2004, 280 Seiten, 24 Euro