: Von Anmut keine Spur
Von einem Großbürger, der seine eigenen Leute provozieren wollte, indem er Schein und Sein auseinander dividierte: Die Hamburger Kunsthalle bringt – eine Seltenheit – Bilder und Skulpturen von Edgar Degas zusammen. Den interessierten die nicht perfekten Körper und Posen der proletarischen Balletteusen und überhaupt alles, was sie hinter der Bühne taten
VON PETRA SCHELLEN
Wenn sie es sich hätten aussuchen können, wären sie wohl in ihren unbeheizten Zimmern sitzen geblieben. Aber sie brauchten Geld, die proletarischen Mädchen, die Modelle des Impressionisten Edgar Degas im Paris des 19. Jahrhunderts – und so wurden sie Balletteusen, jedenfalls einige von ihnen. Schön wollten sie sein für die Hautevolee, und dazu suchten sie sich das Bewegungsrepertoire des Balletts anzueignen – richtig harte Arbeit.
Dass sie sich damit das künstlichste aller Metiers ausgesucht hatten, das die soziale Kluft zwischen Tänzerinnen und Publikum am deutlichsten spiegelte, war diesen Frauen nicht bewusst. Aber Edgar Degas (1834–1917), dem die Hamburger Kunsthalle derzeit eine Ausstellung widmet, wusste darum sehr wohl. Schon deshalb, weil er selbst aus großbürgerlichen Kreisen kam. Entsprechend übel nahmen diese ihm, dass er sich der erwähnten Diskrepanz annahm, dass er schamlos hinter die Bühne schaute: auf das harte Training der Tänzerinnen. Aber auch auf die Nachfrage nach Prostitutionsleistungen, wenn die Vorstellung erstmal zu Ende war.
Empörend naturalistisch malte Degas also, was das Bürgertum lieber nur aus der Ferne sah: durchschnittlich ansehnliche Körper, ungelenke Bewegungen, mit Tutus und Schleifchen mühsam verbrämt. Diese Körper mussten gezwungen werden, die Bewegungen zu vollführen, die das klassische Ballett ihnen abverlangte.
Die Hamburger Ausstellung macht diese Diskrepanz zum Thema – und Degas’ biografisch bedingtes Handicap gleich mit: Seiner zunehmenden Erblindung war geschuldet, dass Degas immer weniger diffizile Ölgemälde und stattdessen immer mehr kräftige Pastelle fertigte. Dass er überhaupt weniger malte und immer mehr Skulpturen anfertigte. Die Hamburger Kunsthalle hat nun getan, was zuvor einzig die Madrider Fundación MAPFRE gewagt hat: fast alle Skulpturen zu zeigen – außerhalb von Vitrinen, quasi frei schwebend vor den Bildern platziert. Was sie offenbaren, wird einen nicht fürs klassische Ballett begeistern: Ästhetisch ansprechend im herkömmlichen Sinne ist es nicht, was diese Frauen da an Bewegungsübungen vorführen. Ob es Degas am Ende Freude gemacht haben könnte, seine Modelle in den unsäglichsten Posen – auf einem Bein, sich den Strumpf anziehend – verharren zu lassen?
In der Tat ist die Stellung fast aller Skulpturen instabil, die Bewegungen deutlich überzeichnet. Degas wollte an die Grenzen der Statik gehen und tat es in Motiv und Ausführung: Nicht nur, dass etliche seiner Skulpturen gestützt werden mussten, weil sie sonst umgekippt wären – auch die gezeigte Haltung ist selten stimmig: Da ist der Arm zu hoch gerissen, das Bein überdehnt; dort kippt die Balletteuse fast auf den Boden, zu dem sie sich eigentlich graziös hinbeugen soll. Kein Zweifel: Diese Frauen tun ihren Körpern Gewalt an.
Das ist bei Degas’ Boudoir-Szenen anders: Nicht nur, dass der Künstler, wenn er sich waschende Frauen verewigte, keineswegs Alltagsverrichtungen darstellte: Bürgerliche Damen wuschen sich allenfalls einmal pro Woche; zu mehreren Waschungen täglich verpflichtet waren allein die Prostituierten.
Abgesehen davon stellte er die Badenden dar, als seien sie unbeobachtet; ein neuerlicher Schritt auf Degas’ Suche nach authentischer Bewegung. Und die ist eben bei ihm nicht sonderlich ästhetisch: Spontane, oft ungelenke Bewegungen finden sich hier, bei denen man die Knochen knacken zu hören meint: Der abzutrocknende Arm wird eckig abgestreckt oder beim Bücken spitzig in die Magengrube gepresst, die Haare werden unwirsch ins Handtuch gezerrt.
Dies sei also der Gegenpol zu den künstlichen Ballettbewegungen, suggeriert Degas und wirft nebenbei die Frage auf, ob sich der Großbürger eigentlich so viel geschmeidiger bewegt. Doch ausdrücklich zum Thema machen die Bilder dies nicht. Dafür müssen die Frauen der Unterschichten herhalten – alternativ auch Pferde: jenes zweite von der Bourgeoisie gefeierte Sujet, dessen sich Degas annahm.
Nicht nur, um die Tiere als verbrauchte Kreaturen vorzuführen. Degas interessierte sich wirklich für die Bewegungen der Pferde, die er auch fotografisch festhielt. Er fand, dass die Stellung der Pferdebeine beim Galopp jahrhundertelang ästhetisch überhöht dargestellt worden sei: Auch das Abbremsen eines Pferds, das gleich darauf ein Hindernis zu überspringen hat, ist kein erhebender Anblick. Sondern pragmatische Physik. Bremsen und Abstützen, ein schwerer Körper auf zu dünnen Beinen.
Warum Degas auf diese Weise eine Illusion nach der anderen verbrannte, ist unklar. Einigermaßen klar ist nur, dass er sich nicht als Sozialkritiker verstand. Sicher ist, dass er die populären Theorien seiner Zeit kannte – welche zum Beispiel die Physiognomie etwa des „unrettbar Kriminellen“ zu bestimmten suchten. Wenn Degas nun seine „Kleine Tänzerin von 14 Jahren“, ursprünglich aus Wachs gegossen, mit eben jener „Kriminellenphysiognomie“ versah und daneben die Porträts zweier Mörder platzierte: Sollte das ein klares Zeichen sein? Für die unabwendbare Zugehörigkeit zu einer Schicht – mitsamt vorbestimmtem Schicksal? Fest steht: Um 1780 wurde Degas’ 14-Jährige, von der in Hamburg ein Abguss gezeigt wird, wegen ihres Naturalismus in den Pariser Salons zum Skandal. Und dann wurde sie zeitlebens nie wieder ausgestellt.
„Degas – Intimität und Pose“: bis 3. 5., Hamburger Kunsthalle