Wie die Westalgie das Laufen lernt

Nostalgische Verständigungsfilme: Mit der Verfilmung erfolgreicher Pop- und Erinnerungsbücher wie etwa „Liegen lernen“ und „Herr Lehmann“ vergewissert sich das deutsche Kino flächendeckend der westdeutschen Achtziger- und Neunzigerjahre

Auf der Klassenfahrt gibt’s FR Davids Song „Words“ genauso wie „Berlin“ von Fischer ZDie Beck’s-Flasche ist original Achtziger mit dem Alupapier überm Kronkorken

von GERRIT BARTELS

Nur gut, dass die westdeutschen Achtzigerjahre so richtig echt rüberkommen in Hendrik Handloegtens Verfilmung von Frank Goosens Erfolgsroman „Liegen lernen“. Helmut, der Held, gespielt von dem 27-jährigen Fabian Busch, wird Anfang der Achtziger auf einer Klassenfahrt von FR Davids „Words“ genauso begleitet wie von Fischer Zs Song „Berlin“; am Ende des Jahrzehnts erklingt dann Musik von Bülent Ersoy in einem Dönerimbiss und der erste noch raue, unverfeinerte Techno in einem typischen Berliner Kellerclub. Genau, so war das! Auch die Einrichtung der Wohnung von Helmuts Eltern im Ruhrgebiet passt: die graue Sitzgarnitur im Wohnzimmer, die rot-weißen Topflappen in der Küche, die braun karierten Polster in der Essecke. Oder das Zimmer von Britta, Helmuts erster Freundin: Korbsessel, Kerzen, Teekannen auf Stövchen, schummrige braune und violette Farben. Schade, dass Filme keine Gerüche vermitteln können, höchstwahrscheinlich würde Brittas Zimmer nach Patschuli riechen. Ja, auch die taz, die da an einem WG-Küchentisch gelesen wird, ist eine Achtziger-Ausgabe.

Das Setting ist perfekt, ansonsten aber nimmt man Handloegtens Film eher achselzuckend und teilnahmslos zur Kenntnis. Man treibt so mit Helmut durch den Film, von den frühen Achtzigern bis in die späten Neunziger, verfolgt seinen Werdegang, oder besser: Nichtwerdegang, Szene für Szene und getreu den Vorgaben der Romanvorlage. Eine Frau, Britta (Susanne Bormann), noch eine Frau, Gisela (Fritzi Haberlandt), und noch eine, Barbara (Sophie Rois, toll!), hier ein Jugendzimmer, dort eine WG, wieder eine Frau, Gloria (Anka Lea Sarstedt). Helmut weiß nie so recht, was das nun alles soll: die Frauen, der Sex, die Politik, der Mauerfall irgendwo weit weg im Osten, das Leben überhaupt. Seine erste große Liebe Britta hat ihn sitzen gelassen, das ist wichtig, das versucht er aufzuarbeiten, daran versucht er zu reifen, und mit dieser dünnen Story muss Handloegtens Film auskommen. Eine sentimentale Reise auf Sparflamme, ein Leben, das ruhig und unspektakulär seine Bahnen zieht, ein Film, dem man geradezu gewaltsam ein Ende setzen muss, weil er ohne weiteres noch ein Stündchen länger schön kuschelig vor sich hin plätschern könnte.

Nur gut, wie gesagt, dass die Kulissen so perfekt sind. Und dass wir, genau, einmal mehr: wir, die Golfer, X-ler und 89er, dass wir uns also vielleicht nicht in Helmut und seinen Frauen, aber in den scheinbar ereignislos dahinfließenden Achtzigern so perfekt wiederfinden können, ohne uns fragen zu müssen: War da nicht doch mehr? Mehr Bewegung, mehr Kämpfe, mehr Spaß? Erinnerung, sprich, aber sanft und wehmütig, sodass „wir“ gut damit leben können.

„Liegen lernen“, der Film, passt gut in eine deutsche Filmszenerie, in der gerade flächendeckend zum großen Erinnern, Sehnen und Sich-der-alten-Zeiten-Vergewissern angehoben wird. Margarethe von Trotta hat sich für ihren Film „Rosenstraße“ einiger deutscher Widerstandsgeschichten im Nazi-Deutschland angenommen, Sönke Wortmann hat das Fußballwunder von Bern verfilmt, und „Sonnenallee“ und „Good Bye Lenin“ haben erfolgreich gezeigt, dass auch die DDR irgendwie ihre guten Zeiten und Seiten hatte. Vor allem aber stehen die westdeutschen Achtziger- und Neunzigerjahre im Zentrum der filmischen Rückbesinnung, die sich dabei sehr geballt bei der erfolgreichen Pop- und Erinnerungsliteratur der späten Neunzigerjahre bedient: bei Benjamin Leberts Schülerroman „Crazy“, Benjamin v. Stuckrad-Barres Poproman „Soloalbum“, Goosens „Liegen lernen“, Sven Regeners Kreuzberg-Roman „Herr Lehmann“. Etwas aus der Reihe fällt Benjamin Quabecks Film „Verschwende deine Jugend“, der außer dem Titel und der Zeit, in der die Filmhandlung angesiedelt ist, nichts mit Jürgen Teipels als Suhrkamp-Taschenbuch veröffentlichter Punk-und-NDW-in-Deutschland-Dokumentation „Verschwende deine Jugend“ zu tun hat.

Das Problem all dieser Filme: Sie kommen vor lauter Westalgie, vor lauter historisch-korrekter Ausstattung nicht wirklich in die Gänge. Sie sind merkwürdig leblos, die Zeitgeschichte und vor ihrem Hintergrund die mühsam verknüpften Erzählstränge wirken merkwürdig statisch, regelrecht eingefroren. Da werden keine neuen Erzählräume geöffnet, sondern sich starr an die Romanvorlagen gehalten, die ja sowieso nicht die großen Erzählungen sind, sondern Episodenromane, Monologe oder zusammengestückelte Erinnerungen. Wenn es dann doch mal „freier“ zugeht, wird wie in „Soloalbum“ oder „Herr Lehmann“ höchstens noch eine Schippe mehr an peinlichem Deutsch-Humor draufgepackt.

Neue Sichtweisen auf gar nicht so lang zurückliegende Zeiten? Fehlanzeige. Gar ein formales Risiko? Dito. Der Erzähler aus dem Off ist logischerweise schon das Höchste. Im Vergleich zu „Liegen lernen“ oder Haußmanns „Herr Lehmann“ war die teils vergnügliche, teils unsägliche Hausbesetzerklamotte „Was tun, wenn’s brennt?“ von „Soloalbum“-Regisseur Gregor Schnitzler zumindest vom Drehbuch her eine interessante Geschichte: Ehemalige Hausbesetzer, die in die Jahre gekommen und bürgerlich geworden sind, müssen wegen alter belastender Filmaufnahmen ihre Vergangenheit zusammen aufarbeiten! Das hätte toll werden können, war dann aber nur eine mitunter peinliche deutsche Filmkomödie in der zweifelhaften Tradition von „Sieben Monde“ oder „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“. Was nun die aktuellen Romanverfilmungen anbetrifft mit ihren blassen Teenie- und Jüngling-kommt-mit-Frauen-und-dem-Leben-nicht-klar-Geschichtchen, kann man nur sagen: Aus der „nostalgischen Verständigungsliteratur, die vor allem geschrieben ist für die Leute, die auch gerade alt geworden sind und sich möglichst der gleichen Dinge erinnern sollen“ (Thomas Meinecke), sind nostalgische Verständigungsfilme für ein möglichst großes Publikum geworden. Ihre Devise: Bloß nicht wehtun, bloß nichts wagen, aber viele kollektive „Ahas“ evozieren.

Vor diesem Hintergrund passt auch Benjamin Quabecks Teenie-Film „Verschwende deine Jugend“ perfekt ins Bild. Er erzählt die nicht unsmarte Geschichte eines Münchener Sparkassenazubis, der 1981 ein DAF-Konzert im Circus Krone praktisch ohne Zustimmung der beiden DAF-Bandmitglieder auf die Beine stellen möchte. Quabecks Film leidet trotz seiner dramaturgischen Eigenständigkeit darunter, dass ihm dauernd der Wille zur absolut stimmigen Ausstattung in die Quere kommt: Die Musikzeitschrift Sounds, das Human-League-Konzertplakat, die Musik von DAF bis XTC, die Getränke von Baileys bis Bols blau und grün, die hell ausgeleuchteten Bars, der Armeschwenkertanz zu Human Leagues „Being Boiled“, die spitzen Treter. Hauptsache, es wird nichts ausgelassen, was 1981 en vogue war.

Wie in einem Museum tragen Tom Schilling als Sparkassenazubi Harry Pritzel und seine Freunde Vince (Robert Stadlober) und Melitta (Jessica Schwarz) von der Band Apollo Schwabing ihre Teenager-Techtelmechtel und Stardom-Träume aus, und wie ein bunt bebildertes Geschichtsbuch versucht der Film bestimmte Stimmungen der Zeit zu erklären: Jetzt ist alles neu in der Musik; der Hippie ist tot; die Ökos sind doof, vor allem aber Außenseiter, die NDWler unpolitisch.

Keine Spur vom großen Ja in einer Welt des permanenten Neins, kein allergrößter Spaß, keine Zwischentöne, sondern nur der ewig gleiche Rock ’n’ Roll, der ewig gleiche, aber kreuzbrave Teenage-Aufstand. Der mündet schließlich darin, dass Tom Schilling, nachdem sich sein Traum vom DAF-Konzert am Ende doch noch erfüllt, räsoniert: „Das war das Tollste, was ich in meinem Leben gemacht habe.“ Armer Harry, arme neue deutsche Welle, war das wirklich alles? Da müsste der Teenager von heute eigentlich gleich zu Nirvana greifen, da hat er wenigstens was zu beißen.

Mag man nun „Liegen lernen“ und in Maßen auch „Verschwende deine Jugend“ eine gewisse souveräne Unaufgeregtheit nicht absprechen, die sie davor bewahrt, mitten im deutschen Film-Komödiantenstadl zu landen, so kann es sich Leander Haußmann mit seiner „Herr Lehmann“-Verfilmung nicht verkneifen, überall noch ein paar Lacher mehr einzubauen. Herr Lehmann wird hier in der Person des meist eine Spur zu affektiert-lümmelig agierenden Christian Ulmen zu einem tapferen Ritter transzendiert, der sich in einem gleichmäßig düster-zwielichtigen 1989er-Kreuzberg mit einer Frau, seinen Eltern, vor allem aber einem Haufen schon sehr alter Männer aus Kreuzbergs Szene herumschlagen muss. Das Ambiente stimmt selbstverständlich: Die Markthalle wurde fast perfekt nachgebaut, und auch die anderen Kneipen machen den Eindruck, als hätte man als junger (!) Kreuzberger schon in ihnen gesessen; die Beck’s-Flaschen sind original Achtziger mit dem Alupapier überm Kronkorken zum Runterniepeln, die Schultheiss-Fläschchen im Prinzenbad der Zeit gemäß.

Selbstverständlich werden auch die einzelnen Szenen schön und wie im Roman hintereinander gereiht, nur eine runde Geschichte ergeben sie nicht. Dort aber, wo es einmal leise und ernst wird, wo eine gewisse Melancholie und so manche Wahrheit in Regeners Buch zum Vorschein kommen, haut Haußmann mit dem Holzhammer drauf. Da wird aus dem Besuch im Krankenhaus, wo Herr Lehmann seinen nervlich eingebrochenen Freund Karl hinbringt, gleich eine Art Nummernrevue; und da würde man sich am Ende, als die Mauer fällt und Herr Lehmann im Roman so gar nichts damit anzufangen weiß, im Film aber mit all seinen Leuten genau dort feiert, da würde man sich also nicht wundern, wenn plötzlich auch Thomas Brussigs Klaus Uhltscht heranstürmen und seinen Riesenpimmel schwenken würde, mit dem er kurz zuvor noch die Mauer umgestoßen hatte: Helden wie wir, zumindest für eine Saison und einen Film.

„Die sind so Scheiße, dass sie schon wieder gut sind“, sagt Robert Stadlober in „Verschwende deine Jugend“ über die Hippie-Orgeln der späten Sechziger und der Siebziger, was sehr schön und treffend ist und wenigstens einmal die Pop-Dialektik der Achtziger und Neunziger auf den Punkt bringt. Schwer vorstellbar, dass die Romanverfilmungen der frühen Nullerjahre dieses Prädikat irgendwann einmal erhalten werden.

„Liegen lernen“. Regie: Hendrik Handloegten. Mit Fabian Busch, Susanne Bormann, Fritzi Haberland, Sophie Rois u. a. D 2003, 94 Min.