: Das Grab der Heuschrecke
Die Finanzkrise ist kein Phantom: Erst kam der Baustopp, dann die Pleite im Ihme-Zentrum, einer riesigen Einkaufs- und Wohnmaschine in Hannover. Die Geldgeber sehen offenbar keine Zukunft mehr für das 200 Millionen Euro teure Projekt
VON KAI SCHÖNEBERG
„Pssst, Geheimtipp“, lauteten noch 2007 Anzeigen-Texte für Maisonette-Wohnungen im berüchtigsten Gebäude Hannovers: Wer sich einst im Ihme-Zentrum für schlappe sechs Euro pro Quadratmeter einkaufte, konnte hoffen, nach dem Umbau der Ladenpassage in der Mega-Immobilie eines Tages richtig Kasse zu machen. Doch das ist nun erst mal Makulatur. Anderswo besteht die Finanzkrise bislang nur aus Schlagzeilen, in Hannover hat sie die Träume der Investoren platzen lassen – aber auch die von 2.400 Menschen, die in der Arbeits-, Einkaufs- und Wohnmaschine unweit des Herzens der niedersächsischen Landeshauptstadt leben.
Eine Filiale des US-Finanzinvestors Carlyle Europe Real Estate Partners meldete vor einer Woche Insolvenz an, weil ihr die Landesbank Berlin (LBB) den Geldhahn zugedreht hatte. 50 Millionen hat Carlyle in den Umbau gesteckt, 150 fehlen noch: das Ihme-Zentrum ist zum Grab der Heuschrecke geworden. Mit dramatischen Folgen für den Umbau der riesigen Ladenzeile, der die Bewohner bereits seit drei Jahren quält: Er wurde Ende Januar abrupt gestoppt. Handwerker zogen ab, fensterlos und abgesperrt von Zäunen und Gittern klaffen nun riesige Wunden im Gebäude mit dem einst größten Betonfundament Europas. Ein Beton-Friedhof. Dabei hatte Carlyle einst mit „viel Flair unter einem Dach: Lifestyle, Lebenskunst und Dolce Vita“ für seine neue Shopping-Welt namens „Lindenpark“ geworben. Eröffnet werden sollte das erste Mal bereits im Herbst 2007.
Knapp einen Kilometer lang und rund 200 Meter breit ist das mit 285.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche wohl größte Gebäude Hannovers. Alle Etagen zusammen bringen es auf eine Fläche von 350 Fußballplätzen, 800 Wohnungen gibt es hier auf bis zu 20 Stockwerken. Außerdem insgesamt 100.000 Quadratmeter Büro- und Ladenfläche sowie eine nicht eröffnete U-Bahnstation. Stadt und Stadtwerke haben sich mit insgesamt 1.300 Beschäftigten im Ihme-Zentrum eingemietet – genau wie eine Reihe meist osteuropäischer Prostituierter. Doch der eine oder andere sozial problematische Bewohner ist nicht das eigentliche Problem des Betonklotzes. Das sind die Investoren.
Direkt am Flüsschen Ihme, am Rand des Studenten- und Arbeiterviertels Linden wurde das Ihme-Zentrum der 1970er Jahre im Stil des Brutalismus gebaut. Der Begriff stammt aus dem Französischen, von béton brut – Sichtbeton –, berühmtester Vertreter war der französische Architekt Le Corbusier. Während viele heute das Ihme-Zentrum als ungastlich empfinden, war es damals nur einer von mehreren als „Stadt in der Stadt“ geplanten Wohn-, Geschäfts- und Arbeitskomplexen. Sie sollten einst die City der Niedersachsen-Metropole „entlasten“: Damals rechneten die Stadtväter noch mit einer Bevölkerungsexplosion Hannovers, das heute 518.000 Einwohner hat. Ursprüngliche Pläne sahen sogar vor, die Fußgängerzone eines Tages von der Innenstadt bis ins anderthalb Kilometer entfernte Ihme-Zentrum zu verlängern.
Die Stadt ist Leid mit ihrem Ihme-Zentrum gewohnt. Seit Jahren schon ist vor allem der Gewerbeteil „ein Problem“, wie Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD) einräumt. Spätestens der Auszug des letzten Großmieters Saturn im Jahr 2004 bedeutete den Todesstoß: Immer mehr Händler verließen die Immobilie. Der Investor Frank-Michael Engel, der seit 2000 nach und nach Flächen erworben hatte, sprang ab, trotz großspuriger Sanierungsversprechen.
Nun wird die Zukunft des Projekts von einem Insolvenzverwalter bestimmt. Die alteingesessenen Eigentümer müssen fürchten, dass sie nach der Carlyle-Pleite auf Unterhaltungskosten in Höhe von bislang 400.000 Euro sitzen bleiben. „Wir sind am Boden“, sagt Gerhard Bahro, der lange hoffte, dass aus der Baustelle vor seiner Haustür eines Tages eine riesige Shopping-Meile wird.
Ob sich ein neuer Investor findet, ist fraglich. Das Ihme-Zentrum hat nach jahrelangem Siechtum einen reichlich schlechten Ruf, außerdem ist die Lage nicht gerade zentral. Das hat die LBB offenbar dazu bewogen, die Carlyle-Tochter in die Knie gehen zu lassen. Immobilienexperten sehen die Zukunft des Komplexes schwarz – zumal, nachdem im hannoverschen Zentrum eine Shopping-Mall mit 30.000 Quadratmetern Verkaufsfläche in Betrieb gegangen ist.