Lumpi, Brando, die Power Rangers und ich

Drei Schauspieler, drei Generationen: Franz Dinda, Anna Thalbach und Thomas Thieme haben vor der Wende die DDR verlassen und erzählen vom Einfluss der Zeit davor auf ihr Leben danach. Aufgezeichnet von David Denk

Seit drei Jahren lebe ich wieder in Weimar, ganz in der Nähe meines Geburtshauses. Auch wenn es doof klingt: Das musste sein, das ist genetisch

Von Anna Thalbach

Ich habe mich immer als Wossi gesehen, immer als Mischung. Als meine Eltern ausgebürgert wurden, war ich drei, als ich in die Schule kam, war ich schon ein Westkind. Den Ostalltag habe ich nie bewusst erlebt. Allerdings hatte ich über meine Eltern immer einen starken Bezug zur DDR und zum Sozialismus. Man darf ja nicht vergessen, dass meine Eltern nicht freiwillig gegangen sind. Sie wollten bleiben und die Gesellschaft kritisieren und reformieren, in die sie hineingeboren wurden.

Im Gegensatz zu meiner Mutter war der Kapitalismus für mich dann auch kein Schock, sondern einfach das System, in dem ich aufgewachsen bin. Heute sehe ich als links denkender Mensch dieses System wesentlich kritischer. Das perfekte Sinnbild für den Kapitalismus ist für mich „Monopoly“: Das Spiel ist dann zu Ende, wenn einer alles hat und die anderen nichts mehr haben. Der Kapitalismus erzieht zur Maßlosigkeit, davon können wir jeden Tag in der Zeitung lesen. Und unter den Auswirkungen dieser Raffgier ächzt im Moment die ganze Welt.

Ein weiteres Problem finde ich, dass wir in einer Zeit leben, in der Präsenz mit Talent verwechselt wird, in der Verpackung alles ist. Ob das menschliche oder tote Verpackung ist – du packst es aus, und nichts ist drin. Ich bin dankbar, dass meine Eltern mir beigebracht haben, dass Oberflächlichkeit etwas ist, wogegen es anzukämpfen gilt. Dass alles, was tief geht, spannend ist.

In der Erziehung meiner Tochter habe ich versucht, diese Werte weiterzugeben, die mir von meinen Eltern vermittelt wurden, auf subtile Weise, durch unzählige Gespräche, durch Argumente. Als meine Tochter beispielsweise eine Baby-Born-Puppe haben wollte, bin ich mit ihr ins Kaufhaus gegangen und habe ihr gezeigt, wie die in echt aussieht, viel hässlicher als in der Fernsehwerbung. Da wollte Nellie sie dann auch gar nicht mehr haben. Da wollte sie erst mal gar nichts mehr.

Natürlich guckt meine Tochter auch Privatfernsehen, aber ich habe ihr von klein auf auch andere Angebote gemacht, besondere Bücher, besondere Filme. Stell zwei Fernseher in ein Zimmer und lass in dem einen die „Power Rangers“ laufen und im anderen einen coolen russischen Märchenfilm – da sag ich dir gleich, wo die Kinder schnell sitzen: vor dem Märchenfilm. Kinder wählen instinktiv das stärkere Medium aus und lassen sich von der bunten, poppigen Aufmachung nicht über die Inhaltslosigkeit dieses Zeichentricktrashs hinwegtäuschen.

Dass mir ein Grundlevel an Bildung bei meiner Tochter wichtig ist, ist wohl noch so ein Stück Osten in mir. Kinder ganz beiläufig an Kultur heranzuführen finde ich fast schon russisch. In Russland gehen die Kleinen ganz selbstverständlich mit ins Theater oder lesen die russischen Klassiker wie Tolstoi und Dostojewski. Ich sag damit ja nicht, dass Kinder nicht auch Mickymaus lesen dürfen, aber das darf eben nicht alles sein.

Dieses Eingehen auf die Kinder und deren individuelle Förderung kommen mir im deutschen Schulsystem viel zu kurz. Auf Nellies Grundschule habe ich die Kinder bald besser gekannt als die Lehrerin. Die meisten Lehrer, die ich kennengelernt habe, wissen einfach nicht, welchen Ton man bei welchem Kind anschlagen muss, damit es sich für etwas interessiert. Sie sind wahnsinnig satt, gelangweilt, teilweise ein Fall für die Couch. Deswegen ist Nellie jetzt auf einem Internat. Dort sind die Lehrer motivierter, wohnen mit den Kindern unter einem Dach, lernen sie automatisch ganz anders kennen.

Ich finde es ungerecht, dass in Deutschland mehr denn je das Geld der Eltern über die Bildungschancen ihrer Kinder entscheidet. Aber von meinem Ideal der Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit ist dieses Land sowieso weit entfernt. Wir leben in einer Wirtschaftsdiktatur – und das empfinde ich gegenüber der Antiwirtschaftsdiktatur DDR als furchtbar geringen Fortschritt. Auch wenn dieses System meinen Eltern viel Ärger gemacht hat: Von der Grundtendenz bin ich wohl Sozialistin.

Anna Thalbach, 35, Tochter der Schauspielerin Katharina Thalbach und Stieftochter des Autors Thomas Brasch, lebt trotz der Schwaben gern in Berlin

Von Franz Dinda

Zu Weihnachten 1988 habe ich acht Tafeln Kinderschokolade geschenkt bekommen. Es war das schönste Geschenk meines Lebens. Der zweite Mann meiner Mutter hatte sie aus dem Westen mitgebracht. Ich habe sie alle auf einmal aufgegessen und zwei Tage lang gebrochen. Die einsetzende Übelkeit habe ich mir zuerst nicht erlaubt. Ich fand das Blasphemie.

Drei Monate später war ich im Westen. Am 23. März 1989 sind meine Mutter und ich übergesiedelt, zwei Tage später wurde ich sechs Jahre alt. Es hat meine Mutter sehr bedrückt, dass sie mir nur eine Packung Smarties schenken konnte. Dabei fand ich ihr Geschenk einfach großartig. Das erste Weihnachtsfest im Westen hat mich dagegen total überfordert. Das war ein Overkill, von dem ich mich nie wirklich erholt habe. Ich kann mich einfach nicht mehr freuen über Geschenke, weil ich das Gefühl habe, der Mühe dahinter nicht gerecht zu werden. Seit diesem Weihnachtsfest schenke ich lieber, als Geschenke zu bekommen.

Binnen zwölf Stunden mussten wir das Land verlassen haben, konnten nur das Nötigste mitnehmen. Ich weiß bis heute nicht, woher meine Mutter den Mut genommen hat, diesen Schritt allein zu gehen. Von meinem Leben in der DDR sind mir nur meine Lumpi-Puppe, zwei Holztiere, eine Handvoll Fotos und ein paar Erinnerungen geblieben. Deswegen frage ich mich auch manchmal: Wer bin ich eigentlich? Von anderen Kindern wurde jeder Fingerlutscher dokumentiert, ich hatte noch nicht mal Beweise dafür, dass ich in der DDR schon zur Schule gegangen war.

Heute stelle ich mir manchmal vor, wie es wohl wäre, wenn ich aus meiner großen Wohnung in Berlin-Mitte aus- und wieder in eine Einzimmerwohnung einziehen würde. Der Gedanke, mich von all dem Ballast um mich herum zu trennen, der reizt mich sehr – auch wenn ich natürlich weiß, dass der Aufbruch mit zwei Koffern für meine Mutter schrecklich war und sie sich nichts sehnlicher gewünscht hätte als einen Möbelwagen, in den man alle Erinnerungen hätte einladen können.

Die Erfahrung, über Nacht in ein fremdes Land gestoßen und dort mit Prügel begrüßt zu werden, hat mich sehr geprägt. Als Fremder aus dem Osten und dann auch noch als Sohn einer Pfarrerin stand ich unter ständiger Beobachtung und hatte das Gefühl, besonders angepasst sein zu müssen. Da ich 24-mal umgezogen bin, war ich immer der Neue, immer derjenige, der zu einer etablierten Gruppe stößt. Bis ich 18 war, habe ich mein Leben abgrundtief gehasst. Ich hatte nie viele Freunde, zu Kindergeburtstagen wurde ich nur aus Mitleid eingeladen, vielleicht trage ich deswegen die Initialen meiner drei besten Freunde in meinem Ring.

Früher bekam ich Dresche, heute gebe ich Autogramme. Ich muss hoch hinaus, weil mein ganzes Gefühl mir sagt: Da gibt’s was zu holen für dich – an Zufriedenheit, an Selbstbestätigung, an Streicheleinheiten. Ich ärgere mich darüber, dass in den Zeitungen hinter meinem Namen immer noch in Klammern „Die Wolke“ steht. In der Familie Dinda definieren sich alle über Leistung – und scheitern daran. Alles, was ich erreicht habe, verpuffte nach einigen Momenten. Alles, was du kriegst, hebt nur die Messlatte. Über eine Tafel Schokolade werde ich mich nie wieder so freuen können wie als Kind.

Besonders viel Osten spüre ich nicht in mir. Der ostdeutsche Teil meiner Familie, den ich erst mit 18 richtig kennengelernt habe, ist mir immer fremd geblieben. Zu dem Menschen, der ich heute bin, haben mich nicht meine thüringischen Wurzeln gemacht, sondern die Erfahrung der doppelten Entwurzelung. Ich bin in einem Land geboren worden, das es nicht mehr gibt, und bin mit fünf Jahren in ein Land gezogen, von dem ich viele Städte kenne, aber keine als Heimat empfinde. Ich werde nie jemand sein, der sagt: Da bin ich zu Hause. Sondern immer nur: Da komme ich gerade klar. Ich kann es nicht aushalten, irgendwo lange zu sein, muss immer weiter – und habe doch die Sehnsucht, mal für immer am selben Ort zu leben, den ich irgendwann in- und auswendig kenne.

Ja, manchmal wäre ich gern ein Spießer, aber ein Franz-Dinda-Weichspülerleben wird es trotzdem nicht geben.

Franz Dinda, 25, spielte zuletzt in „Teenage Angst“ und „Im Winter ein Jahr“ und sucht noch einen Verlag für seinen Gedichtband „Liebesreimheit“

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Ich bin in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt, und in ein Land gezogen, von dem ich viele Städte kenne, aber keine als Heimat empfinde

Von Thomas Thieme

Bei Peter Sodann hört für mich der Spaß auf, das finde ich nicht komisch. Wir kennen uns aus gemeinsamen Magdeburger Theaterzeiten, aber als Bundespräsidentschaftskandidat finde ich ihn ganz ungeeignet. Der Mann hat ja nie ein Verständnis für Demokratie entwickelt. Das ist wabernde Nostalgie, unausgegorener Stammtisch. Und in seiner falschen Volkstümlichkeit auch nicht ungefährlich und intellektuell ganz dünn. Viele Wessis lachen über ihn, finden das unglaublich putzig, wie sich der kleine Mann mit dem großen Ego um Kopf und Kragen redet. Mir tut das weh. Und es ärgert mich, weil es das Niveau deutscher Politik bedenklich senkt. Vielleicht ist es eine Osteigenschaft, dass wir Politik ein bisschen ernster nehmen, weil das Privileg der Demokratie für uns relativ neu ist.

Ich bin so ein richtiges Ostkind, 1948 geboren, ein Kind der Sowjetischen Besatzungszone. Eine Zeit lang war ich Feuer und Flamme für die Ideen des Sozialismus, dann haben sich aber aus der Beobachtung des real existierenden Sozialismus erhebliche Zweifel daran ergeben. Mittlerweile halte ich auch die Idee für utopisch – Altersskepsis. Ich glaube nicht mehr an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Auch im Westen habe ich die Heimat nicht gefunden. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann den Zustand unseres Gemeinwesens als gesund bezeichnen. Die Menschen, die die deutsche Wirtschaft in den Abgrund gestürzt haben, kommen ungeschoren davon, kriegen zwei Jahre auf Bewährung und sitzen dick und fett herum und gucken zu, wie uns die ganze Scheiße um die Ohren fliegt. Das ist für mich an eurer Gesellschaft, also unser Gesellschaft, ein unfassbares Phänomen. Die Krise des Kapitalismus, die kommt ja nicht von uns Ossis. Wir können nichts dafür, müssen jetzt aber damit leben. Das kann man uns nicht in die Schuhe schieben. Wenn der Westen schreit, bringt uns die Köpfe der Stasi-Verbrecher, schrei ich zurück: Dann bringt uns aber auch die skrupellosen Wirtschaftsverbrecher.

Die DDR hat mir nicht gefallen, Westdeutschland gefällt mir auch nicht richtig, und an den dritten Weg glaube ich nicht. Sie merken schon: Ich bin der Opa, dem man es schwer recht machen kann. Aber ich leide nicht darunter. Ich nehme es auch nicht persönlich. Mir geht es ganz gut – von immer wieder aufkeimenden Depressionen einmal abgesehen. Ich lebe in meiner Melancholie und mache meine Arbeit. Vielleicht müsste ich auswandern, aber mit 60, ohne Englischkenntnisse – wo soll ich denn hin?

Richtig euphorisch war ich in meinem Leben nur selten. Als ich im März 1984 in den Westen kam, war so ein Moment. So primitiv das klingt: In meiner Erinnerung roch der Frankfurter Hauptbahnhof nach Südfrüchten. Da war ich total happy. Und im April hatte ich absoluter No Name, der vom Abschiebetheater in Anklam kam, einen Zweijahresvertrag am Schauspiel Frankfurt in der Tasche, spielte plötzlich Bundesliga, arbeitete mit Einar Schleef zusammen. Das war vielleicht nicht der Jackpot, aber ein Fünfer mit Zusatzzahl war das schon. Nach meinem Gespräch mit dem Intendanten Adolf Dresen bin ich direkt in der Kantine geblieben und habe was getrunken. Das war wahrscheinlich der schönste Tag in meinem Leben, was den Beruf betrifft.

Dieser Neustart, auf den ich mit meinem Ausreiseantrag ja aktiv hingearbeitet habe, war sehr wichtig für mich. Im Osten wäre ich vor die Hunde gegangen. Da man argwöhnen musste, dass das eigene Fortkommen in starkem Maße fremdgesteuert war, man also kaum Einfluss auf seine Karriere hatte, hat man sich gehen lassen, abends nach der Vorstellung immer noch einen mehr getrunken. Ich hielt mich für einen verhinderten Marlon Brando – im Westen habe ich dann gemerkt, dass ich nicht Marlon Brando bin. Aber ich bin Thieme geworden.

In meiner Generation sind Wessis Wessis und Ossis Ossis. Aufgrund unserer eingeschränkten Lebensmöglichkeiten sind wir Ossis einfach zurückgeblieben. Das kann ja gar nicht anders sein. Ich meine damit natürlich nicht, dass wir weniger intelligent sind oder weniger talentiert – möglicherweise ganz im Gegenteil –, aber wir haben einfach nicht eure Schulen besucht, eure Reisen gemacht. Das werden wir nie mehr kompensieren können, das können wir nur über Persönlichkeit kompensieren.

Seit drei Jahren lebe ich wieder in meiner Heimatstadt Weimar, 150 Meter von meinem Geburtshaus entfernt. Auch wenn es doof klingt: Das musste einfach sein, das ist genetisch. Die Leute dort sind zwar immer noch die, vor denen ich in den Westen geflüchtet bin, aber ich bin ein anderer. Ich muss denen auch nicht mehr wie früher beweisen, was ich für ’ne tolle Nummer bin. In Weimar bin ich entspannter, mein Puls geht runter. Ich schlafe auch besser als in Berlin und träume häufig von meiner Kindheit, die rein zufällig im Osten war. Es sind immer bunte Träume. Ich war wahnsinnig gerne Kind in Thüringen. Ulbricht regierte, die Mauer wurde gebaut, aber ich war glücklich.

Thomas Thieme, 60, ist gerade in „Effi Briest“ im Kino zu sehen und bald als Helmut Kohl in Thomas Schadts ZDF-Dokudrama über den Exkanzler