piwik no script img

türkei, eu & cdu/csuEuropäische Bewährungsprobe

Edmund Stoiber, der Kernige, stößt in der Frage des EU-Beitritts der Türkei sofort zu zwei Kernfragen vor: „Wo sind Europas Grenzen?“ und „Gehört die Türkei zu Europa?“ Obwohl er sich zu beiden Fragen eine europaweite Diskussion wünscht, hat er selbst schon die Antwort parat. Die Türkei liegt außerhalb.

Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER

Andererseits will Stoiber mit seinem Ausschlussverdikt „die Türkei nicht vor den Kopf stoßen“. Sondern „sehr spezielle, sehr enge Beziehungen“. Dies wird die europafreundlichen Türken freuen. Rückt doch der Katzentisch nahe der europäischen Tafel in greifbare Nähe!

Stoibers Ablehnung des Beitritts stützt sich auf historische und kulturelle Argumente, aus denen das strukturelle Defizit der Türkei in Sachen Demokratie und Menschenrechte hervorgehe. Gemeint ist die lange islamisch-theokratische Tradition sowie deren jähe, gewaltsame und deshalb letztlich unwirksame Umkehrung zum Zwangs-Laizismus unter Kemal Atatürk. Würde man solch eine Beweisführung ernst nehmen, so hätte es einen EU-Beitritt Spaniens oder Portugals angesichts der langen autokratischen Traditionen dieser Länder nicht geben dürfen. Oder, nahe liegender: Galt es nach 1945 nicht als ausgemacht, dass Deutschlands nazistische Katastrophe historisch vorgezeichnet gewesen sei vom „deutschen Sonderweg“? Und welchem Wunder hat es die Bundesrepublik dann zu verdanken, dass sie nur 12 Jahre nach der Befreiung eine demokratische Reife erreicht hatte, der sie zum EWG-Gründungsmitglied qualifizierte?

Dieser ganze Versuch der Ausgrenzung vermittels eines angeblich über die Jahrhunderte gewachsenen abendländischen Wertekanons lässt gerade vermissen, was am europäischen Entwicklungsweg bewahrenswert ist: Weltoffenheit, systematische Selbstzweifel, Lernbereitschaft. Stattdessen sehen wir nun Festungsmentalität, Paternalismus, Überheblichkeit – und wir beobachten Angst.

Dabei steht mit dem Beitritt der Türkei sehr viel auf dem Spiel. Es geht um die Nagelprobe, ob die EU dem universalistischen Charakter der von ihr proklamierten Werte zum Trotz sich als exklusiver Verein „abendländischer“ Provenienz versteht. Oder ob sie sich öffnen kann. Womit der demokratischen europäischen Integration der orthodoxen wie der muslimischen Welt der Weg bereitet würde. Hinsichtlich der bosnischen Muslime hat die EU versagt. Hinsichtlich der türkischen muss sie sich jetzt bewähren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen