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Archiv-Artikel

Nachmittags mit Otto Schily

Und am Abend liest Wolfgang Joop: Nicht weniger als „die kulturelle Drehscheibe im Herzen Berlins“ will die Berliner Opel-Zentrale am Bahnhof Friedrichstraße sein, ein „Ort des Dialogs“ zwischen Kunst, Kapital und natürlich Politik

Der Schandfleck führt ein Eigenleben. Wäre man nicht eingeladen, man wüsste von nichts. Man ginge weiterhin kopfschüttelnd an einem der hässlichsten Neubauten Berlins vorbei, am stets gähnend leeren Adam’s, an endlos langen Schaufenstern voll erbarmungswürdig biederen Neuwagen – nicht ahnend, dass sich hier, hinter der abschreckenden Fassade der Opel AG ein konspiratives Top-Event ans nächste reiht.

Nicht weniger als „die kulturelle Drehscheibe im Herzen Berlins“ soll sie sein, die Berliner Opel-Zentrale am Bahnhof Friedrichstraße, ein „Ort des Dialogs“, zwischen Kunst, Kapital und Politik. „Erst heute Nachmittag durften wir Innenminister Otto Schily begrüßen“, sagt Vorstandsmitglied Klaudia Martini ein bisschen herausfordernd, als hätte man nicht längst alle Zweifler überzeugt. „Ihm wurde heute in diesen Räumen der Aktenzeichen-XY-Preis überreicht.“ Sie sagt das wirklich, Aktenzeichen-XY-Preis, erzählt von „parlamentarischen Abenden bei Opel“, von Gästen wie Schröder und Eichel und natürlich auch von dem tollen afrikanischen Maler, den man neulich ausgestellt habe.

Wolfgang Joop lässt derweil, zwischen seinem langjährigen Lebensgefährten Edwin Lemberg, seinen Eltern und Exfrau Karin sitzend, eine letzte Blitzlichtsalve über sich ergehen, konzentriert lächelnd und sichtlich bereit, der Opel AG ein weiteres Top-Event an diesem ereignisreichen Tag zu bescheren: Die erste öffentliche Lesung aus seinem Roman „Im Wolfspelz“, einem, wie man so schön sagt, „Parforce-Ritt durch die Welt des Glamours“.

Keine Biografie, versteht sich, eher Autofiktion, der Eichborn Verlag habe allzu Biografisches herausgestrichen und warte nun auf seine wahren Memoiren. Die Eichborn-Repräsentantin schaut für einen kurzen Moment indigniert, doch Joop lässt sich nicht beirren. Er beginnt mit dem zweiten Kapitel, „mit meiner Kindheit“. Auch das ist Joop: Keine Biografie schreiben, aber aus „meiner Kindheit“ lesen. So oder so eine offensichtlich weniger schöne Zeit: „Kein Kind war so krank wie der kleine Wolfgang“, liest Wolfgang betroffen, „er war dem Tod oft näher als dem Leben.“ Später dann, der kleine Wolfgang ist längst über den Berg, wird auch Joops Vortrag lebendiger. Mit verstellten Stimmen liest er lustige, sinnentleerte Dialoge zwischen Models, Fotografen und „Wolf, dem Modezar“, die wahlweise am Strand von Miami Beach oder in der VIP-Sektion des New Yorker „Tunnel“-Clubs spielen.

„Hier oben steht die Resistance, my dear“, lässt er eine Transe mit Blick auf die Tanzfläche sagen, „unten ist Krieg“. Es sind Momente wie dieser, die einen kurz überlegen lassen, ob man sich nicht doch ein Buch besorgen und signieren lassen sollte. Wenn Joop zwischen zwei Kapiteln die Entscheidung, einen Hund im Roman ebenfalls Wolf zu nennen, damit begründet, Freunde von ihm hätten sich einen Hund gekauft, weil sie in einer Boutique gefragt wurden, ob ihr Hund Wolfgang heiße, dann ist man doch recht ratlos. Dann wirkt Joop für einen Augenblick wie Andy Warhol kurz nach seinem Attentat, wirft irre Blicke ins Publikum, nestelt tantenhaft an seiner Lesebrille, um dann schnell zum Ende des Romans zu springen, schließlich soll auch selbst gelesen werden: „Manchmal, wenn Wolf an Favoloso dachte, überlegte er, ob auch Wolfi an ihn dachte. Wenn ja, so wusste er, war es voller Liebe.“ Joops abschließende Bemerkung, er habe das Buch wirklich selbst geschrieben, rennt offene Türen ein: Niemand kann daran zweifeln, ausnahmslos alle sind begeistert. Allen voran der Opel-Vorstand, der nach der Aktenzeichen-XY-Preisverleihung an Otto Schily den zweiten großen Triumph des Tages verbucht. Die Drehscheibe dreht sich, mitten im Herzen Berlins.

CORNELIUS TITTEL