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Archiv-Artikel

„Straßenkinder haben viel Mut“

Dolly Conto Obregón

„Wir, und damit sind alle gesellschaftlichen Gruppen gemeint, haben dazu beigetragen, dass wir solche Kinder haben“ „Wer sich mit Straßenkindern beschäftigt, darf nicht nur kommen und gehen, sondern muss viel Zeit mit ihnen verbringen“

Mit 21 kam sie zum ersten Mal nach Berlin. Sie hat sich in einen Berliner verliebt. Das war 1981. Da hatte sie ihren Beruf und ihre Berufung bereits schon gefunden: Straßenkinder. Deren Existenz versteht sie als massive Kritik an der Gesellschaft. Sie studiert Pädagogik an der Technischen Universität. Während ihrer Promotion lebt sie von 1988 bis 1990 mit Straßenkindern in Südamerika und pendelt in der Folgezeit zwischen den Straßen in Berlin und denen in Südamerika. Sie initiiert das seit 1999 bestehende Straßenkinderarchiv in Mitte. Das von Spenden finanzierte Projekt ist Ausgangspunkt einer vom Befreiungspädagogen Paolo Freire inspirierten Bildungsarbeit.

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Conto Obregón, Sie haben in Berlin ein Straßenkinderarchiv aufgebaut. Warum?

Dolly Conto Obregón: Weil ich hier lebe und weil Straßenkinder überall auf der Welt der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Berlin ist da keine Ausnahme.

Sie sind eine der prominentesten Fürsprecherinnen der Straßenkinder. Wie sind Sie das geworden?

Durch Hinschauen. Ich bin in Bogotá aufgewachsen. Schon als Kind habe ich meine Eltern immer gefragt: „Warum wohnen die Kinder auf der Straße?“ „Warum gucken die so?“ „Warum tragen die so weite Klamotten?“ Als Teenager habe ich dann in den armen Vierteln Bogotás Suppenküchen, Theater- und Tanzgruppen aufgebaut und andere Projekte für die Kinder organisiert. Ich habe meine Freunde überredet mitzumachen. Ein deutscher Pater war auch dabei.

Die Kinder haben Ihre Angebote angenommen?

Kinder sind dankbar. Wir hatten auch einen Bus mit Büchern, Bleistiften, Farben. Alles Spenden. Die Kinder sind gekommen, haben gemalt, haben gespielt.

Waren das Straßenkinder?

Jedes zweite Kind in diesen marginalisierten Stadtvierteln ist den ganzen Tag auf der Straße. Das heißt aber nicht, dass sie schon Straßenkinder sind. Sie betteln vielleicht, aber sie haben noch nicht alle Sozialisationsinstanzen wie Eltern, Verwandte, Nachbarschaft, Schulen hinter sich gelassen. Wenn sie sich für die Straße entscheiden, gehen sie aus den Stadtvierteln, wo sie herkommen, raus.

Macht es das schwer, mit Straßenkindern in Kontakt zu kommen?

Ja. Sobald ein Kind auf der Straße ist, gerät es in einen Teufelskreis. Da ist der starke Gruppendruck. Kinder müssen sich beispielsweise prostituieren, wenn sie es vorher nicht getan haben. Dazu kommen Drogen. So vergessen sie Hunger, Kälte, Trauer. Die Drogenabhängigkeit zieht Verwahrlosung nach sich.

Trotzdem ist es Ihnen gelungen, mit Straßenkindern zu arbeiten?

Während meines Pädagogikstudiums in Berlin habe ich schon mit Vorträgen und Ausstellungen darauf aufmerksam gemacht, dass da eine Generation von Kindern ist, die der Gesellschaft langsam verloren geht. Und als ich promovierte, war ich zwei Jahre lang in Kolumbien mit Straßenkindern zusammen?

Was heißt das?

Tag und Nacht da sein und erfahren, wie sie auf der Straße leben, was sie machen, wie sich Hunger und Kälte anfühlt.

Sie haben mit den Kindern auf der Straße übernachtet?

Ja, ich habe die Nächte mit ihnen auf der Straße verbracht. Ab und zu konnte ich mich rausziehen. Das machen, was sie nicht können, nach Hause gehen, duschen. Aber im Grunde genommen war das eine kontinuierliche Zeit, wo ich Tag und Nacht mit ihnen gelebt habe.

Was haben Sie dabei erfahren?

Um das Leben dieser Kinder zu verstehen, muss man nah an ihnen dran sein. Das ist nicht so einfach, sie misstrauen jedem Erwachsenen. Sie sind ja von den Erwachsenen weggegangen. Wer sich mit ihnen beschäftigt, darf nicht nur kommen und gehen, sondern muss viel Zeit mit ihnen verbringen. Das einzige, was die Kinder im Überfluss haben, ist Zeit. Wenn man als Forscherin in der Straßenkinderwelt akzeptiert ist, dann muss man das Wissen, die Erfahrungen und die Beweggründe der Kinder für dieses Leben als Maßstab akzeptieren.

Wie funktioniert Sozialisation auf der Straße?

Es kommt darauf an, wo man ist. Die Organisations- und Gruppenstrukturen unterscheiden sich von Land zu Land. In Brasilien und Kolumbien sind die Gruppenzusammenhänge sehr stark und hierarchisch. In Guatemala sind die Kinder eher zu zweit oder zu dritt unterwegs. In den Gruppen hat jeder zwei Rollen, eine für innerhalb und eine für außerhalb. Außerdem hat jede Gruppe ein bestimmtes Territorium. Rivalitäten und Ehrenkodexe gelten ebenfalls.

Hat sich Ihre Wahrnehmung durch das Zusammenleben verändert?

Zuhören ist wichtig. Die Kinder haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Rituale, ihre eigene Mimik. Ich konnte lernen, dass einige der Kinder sich ihre Lebensform gewählt haben und dass sie so leben wollen. Die sagen: „Für mich ist mein Platz hier und ich will nirgendwo sonst hin.“ Für sie braucht man Respekt und Toleranz, keine neuen Projekte und Häuser. Aber für die anderen.

Sie haben angefangen zu unterscheiden …

… in diejenigen, die so leben wollen und in die andern, die schreien: „Ich habe mir dieses Leben nicht selber ausgesucht, ich war gezwungen, das zu machen.“ Für sie muss man alle Hebel in Bewegung setzen, um ihnen zu helfen.

Besteht bei so viel Wissen über die Straßenkinder nicht die Gefahr, sie zu idealisieren?

Ich finde, dass die Kinder viel Mut haben. Ich wäre nicht in der Lage, so zu leben. Es geht jedoch darum, die Gesellschaft auf die Misere der Kinder aufmerksam zu machen, denn die Kinder spiegeln das, was sie erlebt haben: Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, Armut. Wir, und damit sind alle gesellschaftlichen Gruppen gemeint, haben dazu beigetragen, dass wir solche Kinder haben. Wir lassen Familien zu, die aufgrund von Armut und Unwissenheit, den Kindern nicht das geben können, was sie brauchen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Kinder auch ihren eigenen Charakter mitbringen. Einige resignieren unter widrigen familiären Bedingungen und lassen sich alles gefallen. Andere sind rebellisch. Die Kinder, die auf der Straße leben, gehören meiner Erfahrung nach eher zu den letzteren. Sie halten die Misere in der Familie nicht aus. Ich will, dass verstanden wird, dass Kinder nicht von heute auf morgen zu Straßenkindern werden, sondern dass das ein langer Prozess ist.

Wann sind Sie wieder zurückgekommen nach Berlin?

Ich hatte immer einen Koffer in Berlin. 1996 war ich wieder hier und es entstand die Idee für diese Anlaufstelle. Wir hatten ja so viel Material gesammelt in all den Jahren. Das muss der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Seit 1999 gibt es nun das Straßenkinderarchiv. Heute sind wir die Ansprechpartner für Kindergärten, Schulen und andere Bildungseinrichtungen.

Wie ist es um die Straßenkinder in Berlin bestellt?

Vertrauen ist immer der erste Schritt, um mit diesen Kindern in Dialog zu kommen. Am Anfang sind wir einfach dorthin gegangen, wo sie sich treffen. Bahnhof Zoo, Alexanderplatz, Warschauer Straße. Für Stunden sind wir herum gestanden. Die Kids kommen. Wenn sie sehen, dass ein Mensch kontinuierlich an einen Ort kommt, fragen sie irgendwann, wer du bist. „Bist du neu?“ „Bist du einer von uns?“

Und sonst?

Kids in Berlin oder Kids in Bukarest – da gibt es keine so großen Unterschiede. Nur dass die Kids in Berlin meist älter auf die Straße gehen als in Lateinamerika oder Rumänien.

Wie kommt das?

In Lateinamerika zieht ein Kind oft seine Geschwister nach. Dort treffen wir vier-, fünfjährige Kinder auf der Straße. Hier treten sie mit 14, 15 aus der Gesellschaft aus. Also in der Pubertät. Die meisten sagen, dass sie Probleme mit den Eltern haben und dass sie nicht so ein Spießerleben leben wollen wie die.

Klingt abgeklärt.

Die meisten Berliner Kids, die ich kenne, haben die gleichen Sachen erlebt wie die Kinder in Lateinamerika. Sie wurden sexuell missbraucht, geschlagen, gedemütigt, in der Schule gehänselt, in der Familie als Versager dargestellt, abgestempelt, ausgegrenzt. Emotionale Kälte, Leistungsdruck, das sind in Deutschland schon oft die Auslöser. In Lateinamerika und Afrika sind die ökonomischen Probleme stärker, aber die Beweggründe der Kinder, letztlich auf die Straße zu gehen, sind ähnlich.

Gibt es in Berlin eine Zunahme von Straßenkindern in den letzten Jahren?

Wir beobachten, dass Kinder, die auf Sozialhilfe leben, verstärkt auf der Straße auftauchen. Ausgelöst mitunter von kleinen Diebstählen, die sie begangen haben. Armut bedeutet allerdings nicht automatisch, dass die Kinder wegrennen, sofern es innerhalb der armen Familie Wärme und Zuneigung gibt. Aber wenn Armut und emotionale Kälte zusammenkommen, dann wird es schwer.

Wie gehen Sie in Berlin mit dem Thema an die Öffentlichkeit?

Wir haben hier im Verein ein Jugendgruppe, 14- bis 18-jährige Kids, die Projekte selbst planen und durchführen. „Downtown-Connection“ heißen die. Sie gehen in Kindergärten, in Schulen, machen Fairnesstraining, organisieren „Fußball gegen Gewalt“, gestalten Malaktionen, Brief- und Gedichtaktionen. Die Kinder können beschreiben, wie und wo sie Gewalt erfahren haben und was sie gerne anders hätten. Diese Texte veröffentlichen wir im Internet, aber auch in den Schulen, wo die Projekte gelaufen sind, und stellen die Ergebnisse den Eltern zur Verfügung. Da wir das anonym machen, erfahren wir, wie verbreitet Gewalt ist. Wir organisieren auch seit drei Jahren den Internationalen Kindermarsch gegen Gewalt.

Sie bringen Kinder dazu, Kindern zu helfen? Das, was Sie als Jugendliche selbst in Bogotá gemacht haben?

Kinder kommunizieren untereinander. Wenn einer ein Problem hat, sagt er es eher einem Gleichaltrigen als einem Erwachsenen. Wir müssen deshalb die Kinder selbst in die Lage versetzen, anderen Kindern zu helfen. Wenn sie wirklich nicht weiter wissen, dann kommen sie zu uns.

Das normale Erziehungskonzept lautet: Eltern erziehen die Kinder. Sie gehen einen Schritt weiter und sagen, Kinder erziehen die Kinder. Oder noch weiter: Kinder erziehen die Eltern?

Kinder sind die Betroffenen. Sie können uns sagen, was geändert werden muss.

Sie drehen auch den Entwicklungshilfeansatz, der hier gerne in Nord-Süd-Richtung gedacht wird, auf den Kopf. Die Frau aus Kolumbien macht nun Entwicklungshilfearbeit in Berlin.

Sextourismus mit Minderjährigen ist etwas, was Erwachsene in den Industrieländern meinen machen zu dürfen, weil sie das Geld haben. Das ist das eine. Das andere: Solange Kinder nicht Nein sagen können, werden sie von Erwachsenen für alles mögliche benutzt, missbraucht und wie Objekte behandelt. Diesen Zustand will ich ändern. Nur das.