Einen kleinen Berg versetzt

Nach einigen Enttäuschungen und viel Kritik in den letzten Jahre präsentiert sich das Team der deutschen Hockeyspielerinnen bei seinem ersten Match in Athen in Topform und schlägt den amtierenden Olympiasieger Australien überraschend mit 2:1

AUS ATHEN RONALD RENG

Die Taktik war nur noch ein einziger blauer Wirrwarr. Markus Weise, der junge Trainer, hatte die Pfeile und Punkte auf der weißen Taktiktafel mit dem Handrücken weggewischt, zurück blieb eine wüste Filzstiftschmiererei. Das Spiel war aus. Doch die verwischten Spuren auf der Handtafel, die Weise (42) unter dem Arm trug, sahen aus wie das Werk eines surrealistischen Malers, der das verblüffende 2:1 des deutschen Frauenhockey-Teams in dessen erstem Vorrundenspiel gegen den amtierenden Olympiasieger Australien darstellen wollte. Es gibt Erfolge, die lassen sich mit Pfeilen und Kreuzchen, mit Taktik nicht mal annähernd erklären; der Sieg der Deutschen am Samstag gegen ein Team, das bei Olympia zum letzten Mal 1992 verloren hatte, ist mit einem kraftvollen, wütenden Gekritzel viel besser beschrieben: ihr Schwung, ihre Wucht, der Wille. Nur eines war in Weises ungewolltem Gemälde nicht zu erkennen: das Erstaunen, dass dieser Elf so ein Kunstwerk gelang.

Es braucht nicht gleich wieder das im Sport inflationär missbrauchte Wort „Sensation“ herausposaunt zu werden. Australiens „Hockeyroos“ sind noch immer Weltklasse, aber nicht mehr von einem fernen Stern wie bei den Olympiasiegen 1996 und 2000. Auch wäre durchaus möglich, dass Weises Elf in den weiteren Vorrundenspielen gegen die Turnierfavoriten Niederlande und Südkorea den Einzug ins Semifinale noch verpasst. „Ihr werdet es nicht schaffen, dass ich das Wort ‚Halbfinale‘ in den Mund nehme“, prophezeite der Bundestrainer. Aber all diese Einschränkungen sollen nicht verwischen, was für ein besonderer Tag der Samstag war. Es war die Verwandlung eines Teams.

Siebte Plätze bei den Olympischen Spielen 2000 sowie der Weltmeisterschaft 2002 hatten den deutschen Frauen nahe gelegt, dass die Weltspitze für sie ein fremdes Land geworden sei. An Kritik hat es nicht gemangelt, egal ob Ursula Schmitz, die Generalsekretärin des Deutschen Hockey-Bundes von „Höhere-Töchter-Mentalität“ sprach oder sich die Männer-Nationalspieler in Privatgesprächen wunderten, „ob die glauben, nur mit Schokoladeessen Europameister werden zu können“. Es zielte immer auf das Schlimmste, was man einem Sportteam vorwerfen kann: nicht genug für den Erfolg zu tun. Im Kern waren die Vorwürfe nicht unberechtigt, das haben sie ironischerweise gerade mit ihrem Triumph gegen Australien belegt: „So fit wie diesmal ist eine Frauen-Nationalelf noch nie zu einem Turnier gefahren, das zeigen die medizinischen Tests“, sagt Weise, und daraus lässt sich natürlich auch der Rückschluss ziehen, dass sie in den zurückliegenden Jahren nicht konsequent genug trainiert haben. Vergangenheit.

„Heute haben wir einen kleinen Berg versetzt“, sagte Mittelfeldspielerin Caroline Casaretto, und ihr Körper arbeitete noch immer im Rhythmus der gerade beendeten Partie. Sie redete so schnell, hart und atemlos, wie sie gespielt hatte. Casaretto war ein gutes Beispiel: Sie hatte nicht viel von dem gezeigt, was nach genereller Einschätzung eine überragende Partie ausmacht, keine traumhaften Steilpässe, keine sehenswerten Dribblings, und doch hatte sie herausragend gespielt – als Mannschaftsspielerin, die im Verbund mit den anderen den Australierinnen den Raum zum Spiel stahl, Zweikämpfe mit unendlicher Vehemenz in Serie gewann. Es gab keine deutsche Spielerin, über die sich nicht dasselbe sagen ließ. „Wir haben kein Team mit zehn natürlichen Kampfschweinen“, sagt Weise, „aber diesmal haben wir es rausgekitzelt. Sie haben sich mit Händen und Füßen gewehrt.“

Warum diesmal? „Tja, das ist so ’ne Frauenwelt“, sagte Weise und lachte: „Eine Wundertüte.“ Aber es gibt auch rationale Gründe, die die Verwandlung erklären. Olympia motiviert mehr als alles andere, da wurde kein Trainingseinheit ausgelassen, wenn der Trainer es nicht sah und „gerade Stress mit Studium oder Freund war“ (Weise).

„Jedes Spiel spielen, als ob es das einzige wäre“, will Weise jetzt, „und wenn uns auf dem Weg die Luft ausgeht, dann ist das halt so.“ Er klang jedoch nicht wie jemand, der Angst vor dem Einbruch hätte oder sich sonderlich um die Zukunft sorgt. Sportteams leben für den Moment. Und das hier war ihrer.