Die Zukunft in der Seifenblase

Freizügig sollte es sein, schaumig und bunt: Mit der Ausstellung „Art & the 60s: This was Tomorrow“ lässt die Londoner Tate Britain die Swinging Sixties Revue passieren. Deren Ende markierten ein einstürzender Neubau und Mick Jagger in Handschellen, aber zuvor schillerten die Verheißungen des Pop

Architekten schauen in den Himmel, Bildhauer auf schwereloses Material

VON MARCUS WOELLER

Das war morgen. Eine Zukunft, die heute schon lange in der Vergangenheit liegt. Die Rede ist von den Sechzigerjahren. Und die begannen 1956. Soweit zur Unschärferelation kulturgeschichtlicher Zeitrechnung. „Art & the 60s: This was Tomorrow“ nennt die Tate Britain ihren Rückblick auf das Vorgestern der Sechziger. Der Titel ist eine Anspielung auf die legendäre Ausstellung „This Is Tomorrow“, mit der die Londoner Whitechapel Gallery 1956 einen Blick in die Zukunft wagte. Unter dem Einfluss der immer populärer werdenden visuellen Kultur Amerikas imaginierten damals zwölf Teams von Architekten und Künstlern morgige Lebenswelten. Sie kehrten damit der Nachkriegsästhetik der Fünfzigerjahre den Rücken und erfanden die britische Variante der Pop-Art.

Nicht irgendein Jahrzehnt und seine Kunst präsentieren nun die Kuratoren Katharine Stout und Chris Stephens, sondern die als Swinging Sixties in den Kosmos mythischer Verklärung eingegangenen Jahre des Aufbruchs und der massiven gesellschaftlichen Veränderung Großbritanniens. Am besten gedeiht der Mythos in der pathetischen Verherrlichung oder der bedingungslosen Verdammung. Ihn abzubilden oder gar auszustellen bekommt ihm meistens nicht. Da bleibt dann oft nur das Klischee. Und an dieser Falle tappt auch „Art & the 60s: This Was Tomorrow“ nicht immer vorbei.

Mit Exponaten aus Malerei und Skulptur, Fotografie, Architektur und Performance sind fast alle künstlerischen Gattungen vorhanden. Eigenartigerweise fehlt der Film. Weder der Beatles-Film „A Hard Day’s Night“ ist zu sehen noch Michelangelo Antonionis „Blow-up“. Kennt eh schon jeder, dachte man sich wohl und zitiert munter drauflos. Ian Stephenson steuert mit „Parachrome“ ein Bild bei, das „Blow-up“-Fotograf Thomas in seiner Wohnung hängen hat. Dessen pixelartig aufgesprühten Farbpunkte und verwischte Schlieren ermuntern den Protagonisten des Films zur immer stärkeren Vergrößerung seiner Fotos, auf denen er die Bestätigung seiner Mordhalluzinationen sucht. Auf der Ebene sichtbarer Bildpunkte löst sich jedoch die erkennbare Wahrheit in die reine Form auf. Als Fotografen, der die Ausschnittsvergrößerungen für „Blow-up“ entwarf, engagierte Antonioni Don McCullin, mit dem er die neorealistische Vergangenheit teilte. In Fotografien wie „The Guv’nors“ von 1958 dokumentiert McCullin die soziale und räumliche Realität der Nachkriegszeit. Hier verkultet er eine Gang, die Ende der Fünfzigerjahre über die verrufene Finsbury-Park-Gegend herrschte, als Heroen der Straße. In ihren Anzügen und schmalen Krawatten erscheinen die organisierten Minimobster wie eine Gruppe stylisher Mods.

Überhaupt ist es die Darstellung und Betonung eines ganz bestimmten Stils, der die Sixties schon Ende der Fünfziger beginnen lässt. David Bailey fotografiert Frauen als ebenso mode- wie selbstbewusste Dandys und Männer als schick-arrogante Bohemiens. Damit wird er zu einem der bestimmenden Modefotografen der 1960er-Jahre. In der Serie „A Box of Pin Ups“ porträtiert er die Prominenz der Ära und feiert damit das spezifisch britische Interesse an den Stars des öffentlichen Lebens. Wie man sich selbst als Ikonen der Popkultur inszeniert, bewiesen die Beatles in besagtem „A Hard Day’s Night“. Robert Freeman steuerte dazu das fotografische Design bei. In seinem Filmplakat posieren die Fab Four wie in einem Lehrbuch für Physiognomie. Zum Porträt der Celebrity schlechthin gerät eine Fotografie George Harrisons von Robert Whitaker. Der Beatles-Gitarrist steht schwarz gekleidet, Zigarette rauchend, mit Pilzkopf, dunkler Nickelbrille und abstehenden Ohren wie die Karikatur seiner selbst vor einem Gittertor, hinter dem sich eine Meute jugendlicher Fans drängelt. Neben seinem Kopf warnt ein Hinweisschild „Way Out“, als kündige es schon die Ausweglosigkeit des Pop an.

Aber noch sind Loslösung, Freizügigkeit und Befreiung die bestimmenden Impulse für die Kunst der 1960er-Jahre. Die Architektur schaut nach oben und findet den Ausweg in der Höhe. Die zeitweilige Idee des Wohlfahrtsstaats kulminierte in Großbritannien in Hochhausprojekten für den sozialen Wohnungsbau. Architekten wie Basil Spence, Ernö Goldfinger und das Ehepaar Alison und Peter Smithson versuchten eine Synthese aus Betonbrutalismus à la Le Corbusier und Kenzo Tange einerseits und der Leichtigkeit skandinavischen Designs in der Art Arne Jacobsens andererseits. Andere träumen von der Utopie mobiler Architektur wie die Gruppe Archigram. Auch die Bildhauerei sucht dynamischere Konzepte und entdeckt die Leichtigkeit des Materials. Besonders die neuartigen Kunststoffe beeinflussen die Skulptur nachhaltig. Acryl und Schaumstoff, wie etwa Philip King und Barry Flanagan sie verarbeiten, mindern die Ausgeliefertheit der Plastiken und Rauminstallationen an die Schwerkraft. David Medallas Träume sind wirklich Schäume. Seine unprätentiösen Holzboxen „Cloud Canyons“ produzieren kinetische Skulpturen aus Seifenschaum, die immer wieder neue Formen bilden, um sich schließlich unweigerlich in einer Pfütze aus Lauge aufzulösen.

Am Ende löst sich die ganze Epoche auf. Die plastikhafte Leichtigkeit und bonbonbunte Farbigkeit der Sixties enden in Ernüchterung. Im Osten Londons kollabiert der Plattenbau „Ronan Point“ an der eigenen statischen Unausgereiftheit, auf den Straßen protestieren die Studenten gegen den Vietnamkrieg, die Beatles verschwinden nach Indien. Der Schwung ist raus, das Klima wird härter und beißender. Richard Hamilton, Mitbegründer der englischen Pop-Art, schafft mit „Swingeing London 67“ das Werk, das den Endpunkt definiert. 1967 wurden Mick Jagger und der einflussreiche Galerist Robert Fraser wegen Drogenbesitzes verhaftet. Die konservative Presse stürzte sich auf den Fall und weidete ihn textlich und bildlich bis ins letzte Detail aus. Hamilton vergrößert den fotografischen Augenblick, in dem sich Jagger und Fraser, an den Händen aneinander gekettet, vor den Schüssen der Kameras zu schützen versuchen. Die mit glänzendem Chrom ins Bild collagierten Handschellen markieren die Überambitioniertheit der Strafjustiz und damit die Rückkehr zu einer rigideren Gesellschaftspolitik.

Bis zum 3. Oktober, Katalog (Tate Publishing) 20 £