: Verbrechen und andere Alltäglichkeiten
Mit bläsergestütztem Willen zum Anarchismus: Die russische Ska-Punk-Band Leningrad ist zu einer der erfolgreichsten Bands ihres Landes aufgestiegen. Der kommerzielle Erfolg ist beachtlich, mit MTV-Rotation und allem Pipapo – dennoch genießt die Band immer noch den Rang von Underground-Heroen
VON MADELEINE PRAHS
Wenn die russische Band Leningrad in Sankt Petersburg auftritt, herrscht Ausnahmezustand. Dann ist Feiertag für die russische Jugend, und die Behörden treffen Sicherheitsvorkehrungen, wie sie das sonst nur zu 300-Jahr-Feiern ihrer Stadt tun.
Mit gutem Grund, wie sich bei ihren Auftritten zeigt: Denn wenn „Schnur“, wie der charismatische Leningrad-Sänger Sergei Schnurow von den meisten Russen nur genannt wird, mit einem riesigen Satz auf die Bühne springt, empfängt ihn die stets überfüllte Konzerthalle mit einer Begeisterung, dass man jeden Augenblick mit dem Einsturz des Gebäudes rechnet. Genüsslich fährt sich der 31-Jährige dann durch seinen Dreitagebart, lässt den Blick über die riesige Menge jubelnder Fans schweifen und genehmigt sich einen kräftigen Schluck Wodka aus der Flasche.
Es wird seine erste und letzte Pause sein, denn in keiner Minute des knapp dreistündigen Konzerts wird der Sänger, der mit Sonnenbrille, Feinrippunterhemd und einer hellblauen Adidas-Hose bekleidet ist, nun still stehen – genauso wenig wie seine 15 Kollegen, die mit Tuba und Trompeten auf der Bühne stehen, oder die Fans im Saal. 300 bis 500 Rubel kostet mittlerweile eine Eintrittskarte für ein Leningrad-Konzert, für viele ein halber Monatsverdienst. Dennoch sind die Konzerte der Band meist schon Wochen vorher ausverkauft.
Mit ihrem bläsergestützten Ska-Punk und ihrer energiegeladenen Show gerät jedes Leningrad-Konzert zu einem garantiert schweißtreibenden Ereignis. Gerade in den letzten Jahren erfuhr die Band einen enormen Popularitätsschub, der vor allem eins deutlich zeigt: Der Run der Russen auf westliche Popmusik, der nach der Perestroika eingesetzt hatte, ist mittlerweile abgeflaut. Heute wendet sich die russische Jugend vermehrt der landeseigenen Underground-Szene zu, die ein beachtliches Revival erfährt. Das geht so weit, dass CDs oder Kassetten russischer Underground-Heroen mittlerweile teurer gehandelt werden als russischer Mainstream-Pop oder gar westliche Importe.
St. Petersburg ist die musikalische Hauptstadt dieser Subkultur. Deren Spektrum reicht von jazzigem Progrock, für den Auktyon mit ihrem Frontmann Oleg Garkuscha stehen, über Folk oder Punk, wie ihn die Frauenbands Babslei oder Iwa Nowa verkörpern, über Reggae-Bands wie 5’Nizza bis hin zu experimentellen und elektronischen Projekten wie Messer für Frau Müller. Und ob nun in der „Fish Fabrique“, dem „Moloko“ oder im „Red Club“ – mindestens einmal pro Woche kann man eine dieser Bands in einem der namhaften Clubs der Stadt erleben.
1997, als Sergei Schnurow in Petersburg seine Band gründete, war man davon noch weit entfernt. Dabei waren Leningrad nicht die ersten, die den rüpeligen Ska-Punk in der Tradition von The Clash, den Specials oder auch Madness für sich entdeckten: Lokale Bands wie Distemper oder Spitfire waren Vorläufer ihrer Art. Aber Leningrad waren die Ersten, die diesen Musikstil so überzeugend mit den russischen Verhältnissen in Einklang brachten, dass ihr erstes Album „Die tödliche Kugel“ schon 1999 mit voller Wucht einschlug.
Vielleicht zählen sie in Russland deshalb immer noch zum Underground, obwohl ihre Video-Clips inzwischen im russischen MTV-Programm rotieren, man ihre Lieder als Handy-Klingeltöne herunterladen kann und kürzlich sogar eine Fernsehwerbung mit einem ihrer Songs untermalt wurde. Mitunter tritt die Band sogar in edlen Hotelbars auf, wo der Eintritt 100 Dollar beträgt, was sich fast nur „neureiche“ Russen leisten können.
Bis vor kurzem kam die Band auch ohne derartige kommerzielle Konzessionen gut aus. Denn das Besondere an Leningrad spiegelt sich nicht nur in den geschliffenen Bläsersätzen, den melodischen Akkordeon-Solis oder der knarzigen Stimme Schnurows, der zwischen Ska-Gebrüll und Rap-Stakkato genau zu changieren weiß. Es sind vor allem ihre Texte, die Leningrad auszeichnen und die nicht selten im Kontrast zur Musik stehen. Der Song „Bürschlein“ von ihrem Album „Im Arsch hergestellt“ (2001 Gala Records) könnte aufgrund seiner swingenden Melodie fast als „fröhlicher“ Song durchgehen. Der Text aber erzählt die Geschichte eines Jungen, der am Bahnhof beim Klauen erwischt und anschließend von der Polizei so lange zusammen geschlagen wird, bis er Blut spuckt.
Alkohol, Drogen, Sex und Schlägereien – viele Leningrad-Songs handeln von solchen Themen, in denen sich die Realität der russischen Straße spiegelt. Und bei „Ich heiße Schnur“, welches sich auf ihrer letzten Platte „Für Millionen“ findet, macht der Bandleader deutlich, an wen er seine Lieder gerichtet wissen will: an alle – speziell aber an all seine „Freunde“, die Junkies, Invaliden und Drogenabhängigen.
Bei solchen Statements geht es weniger um den vermeintlichen Glamour einer vermeintlich radikalen Geste – sie sind vielmehr Ausdruck eines Willens zum Anarchismus, der tief in der russischen Musikkultur verwurzelt ist. Schon in den Dreißigerjahren prägten Gangsterchansons und Verbrecherpolkas, die von Abenteuern, Gefängnis und der Sehnsucht nach Freiheit und Heimat handeln, die russische Musikszene. Songwriter-Größen der Siebzigerjahre wie Kostja Beljaew, Arkadi Sewerni oder Rudi Fuks griffen diese Themen später wieder auf: Sie sammelten alte Texte und vertonten sie neu, ihre Tapes zirkulierten aber nur illegal und unter der Theke. Bands wie Leningrad stehen nun für eine neue Generation, die dieses Erbe weiterführt.
Ihr Erfolg bestätigt, wie viele russische Jugendliche sich mit dieser antibürgerlichen Haltung identifizieren können. Mit wüsten Provokationen parodierten Leningrad einst das kulturelle Erbe der Sowjetunion. Heute parodieren sie die kapitalistische Realität: Dass ihnen das so gut gelingt, liegt auch am „Mat“ – einer Art Slang, der Fäkalwörter, derbe Flüche und Kraftausdrücke umfasst, der fast jedes Leningrad-Lied adelt. Darüber hinaus lässt sich Schnurow beim Schreiben gerne von seinem Lieblingsschriftsteller Wladimir Sorokin inspirieren.
In einem Interview erklärt er, was für seinen „Dirty Talk“ spricht: „Wenn du so auf der Bühne sprichst, reißt du alle Barrieren zwischen dir und deinem Publikum nieder. Du wirst einer von ihnen.“ Die Fans auf den Leningrad-Konzerten scheinen das zu bestätigen: Sie kennen jedes Lied auswendig und singen stets von der ersten bis zur letzen Strophe mit.
In Deutschland sind die Alben von Leningrad nicht erhältlich. Einzelne Songs finden sich auf den Samplern „Russendisko“, „Russian Soul“ und „Globalista“ (Trikont). Info: www.russendisko.de