: Das Klavier der Mutter
AUS BERLIN UND LEIPZIGFRIEDERIKE GRÄFF
In der Blüthner Pianofortefabrik in Leipzig steht der alte Flügel ein bisschen mitgenommen neben all den neuen in der Halle. Zurück in Deutschland. „Es ist das Beste für das Piano“, sagt Ingbert Blüthner. – „Es wird zur Menschlichkeit beitragen, es ist großartig“, sagt Tessa Uys. Man könnte sagen, dass der Blüthner das einzig Greifbare und Unzweifelhafte ist in dieser Geschichte, neben einem Stapel von Briefen und Fotos. Tessa Uys ist plötzlich auf diese Geschichte gestoßen, die Geschichte ihrer Mutter, aber eigentlich ist es gar keine Geschichte, es sind nur verstreute Wegweiser. Vielleicht stößt man auf einen Weg, vielleicht läuft man im Kreis, weil niemand mehr da ist, der die Strecke kennt.
Auf jeden Fall lässt sich sagen, wann die Suche begonnen hat: 2003, 13 Jahre nach dem Tod ihres Vaters und 34 Jahre nach dem ihrer Mutter, als Tessa Uys Papiere in ihrem Elternhaus in Kapstadt ordnet. Tessa Uys, 1948 geboren, ist eine sehr schmale Person, fast zerbrechlich, aber sie ist ausdauernd, wie sonst wäre sie Konzertpianistin geworden. Sie findet die Quittung für den Blüthner-Flügel ihrer Mutter, sie findet Fotos, Tagebücher, ein Berliner Telefonbuch von 1938 und einen Brief der Reichsmusikkammer. Darin steht, dass die Pianistin Helga Bassel wegen ihrer jüdischen Herkunft ausgeschlossen wird. „Jüdische Herkunft“, liest Tessa Uys, sie hat nie davon gehört. „It was quite a moment“, sagt sie, und in diesem „quite“, das man nur schlecht übersetzen kann, liegt die Überraschung, dass die Mutter die Hälfte ihres Lebens verbarg. Und es schwingt die Frage mit, wozu das Schweigen gut war. Zu Hause in London, wenn sie nicht schlafen kann, blättert sie im Berliner Telefonbuch und sucht nach dem Namen ihrer Großeltern.
Am 30. Juni 1913 lackiert der Angestellte Goller in Leipzig einen Blüthner-Flügel mit Schellack, poliert ihn und schreibt das Datum und seinen Namen hinein. Dann verliert sich die Spur. Der Erste Weltkrieg bricht aus, man schmilzt die Kerzenhalter an den Klavieren ein, um Gewehre daraus zu machen. Am 24. März 1930 geht Helga Bassel ins Klavierhaus Rehbock in Berlin und kauft den Blüthner. Der Verkäufer gibt ihr eine Quittung, „Bestellschein aus Haus Rehbock“, steht darauf. „ 1 Blüthner Flügel … gebraucht, schwarz poliert, Abzahlungen“.
Es gibt ein Foto von Helga Bassel, als sie zwanzig Jahre alt ist. Sie sieht älter aus, als sie ist, vermutlich wegen des Blicks, in sich versunken und ein bisschen unnahbar. „Ist es nicht ungewöhnlich, dass eine so junge Frau einen Flügel kauft?“, fragt Tessa Uys Ingbert Blüthner, einen heiteren, weißhaarigen Herrn. Blüthner sagt, dass die Klaviatur stark ausgespielt ist, dass die Abstände zwischen den Tasten zu groß geworden sind und dass er neue Filze, einen Resonanzboden und eine neue Lackierung braucht.
Helga Bassel studiert an der Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg, sie verlobt sich mit dem Geologen Franz Michels. Michels ist Christ. Auf einem Foto sieht man sie zusammen auf dem Blüthner spielen, „5. Bruckner vierhändig“ hat sie darunter notiert. Wahrscheinlich hat sie es noch in Berlin geschrieben, ohne Ort und ohne Namen, so wie man in ruhigen Zeiten Fotos beschriftet, wenn man glaubt, dass alles so bleiben wird, wie es ist.
Hitler kommt an die Macht. 1933 konvertiert Helga Bassel und wird Mitglied des „Reichsverbands der Nichtarischen Christen – Kulturabteilung“. Sie ist ausgebildete Konzertpianistin, aber hat kaum Auftritte, nicht einmal ausreichend Schüler, die sie unterrichten kann. Ein Freund rät ihrem Bruder Gerhard: „Bring deine Familie weg aus Deutschland.“ Gerhard ist ein guter Sportler, fährt auf Skiern über die Schweizer Grenze und reist dann weiter nach Kapstadt.
Helga Bassel überlegt mit Franz Michels, in welches Land sie gemeinsam gehen könnten. Es scheint, dass er versucht hat, mit ihr in die Vereinigten Staaten auszureisen, aber es gelingt ihnen nicht. In Frankfurt bietet man ihm eine Professur an. Der Dekan der Fakultät bittet ihn in sein Büro: Wenn Franz Michels nicht bereit sei, seine Verlobung zu lösen, koste ihn das die Stelle. Er nimmt sie an. Helga Bassel geht nach Südafrika. Was nimmt man mit? Papiere, Kleidung, vielleicht Fotos, um sich zu erinnern an das, was man zurücklässt. Helga Bassel nimmt ihren Flügel mit, Franz Michels organisiert den Transport. Drei Jahre später kommen ihre Eltern mit dem letzten Schiff nach.
In Südafrika heiratet sie den Organisten Hannes Uys, sie bekommen zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Das Kinderzimmer liegt über dem Musikzimmer, wenn Tessa Uys abends einschläft, hört sie ihre Mutter Schubert, Brahms und Mozart auf dem Blüthner spielen. „Es war eine großartige Kindheit“, sagt Tessa Uys. „Mit sehr viel Fröhlichkeit.“ Voller Musik. Die Eltern unterrichten zu Hause, der Vater probt mit seinen Chören, Besucher kommen.
„Sie hat nie über ihren Hintergrund gesprochen, sie sprach nur über Bruno Walter und Furtwängler“, sagt Tessa Uys. Mit drei Jahren lernt sie selbst Klavier spielen. Bei Tisch beten die Kinder Psalmen, sonntags gehen sie zur Kirche. Die Mutter ermuntert sie dazu, sie weiß, dass es ihren Mann freut. Tessa weiß, dass ihre Mutter aus Deutschland fliehen musste. Sie weiß, dass es einen Verlobten in Berlin gegeben hat. Aber niemand fragt, warum sie fliehen musste, warum die Verlobung gelöst wurde. Als gebe es ein Schweigeabkommen in diesem Haus voller Töne.
Manchmal spricht ihre Mutter über Deutschland, dann erzählt sie von Franz, von den Konzerten, die sie in Berlin gehört hat. Nicht gesprochen wird über Politik, Religion und Sex. Tessa spielt in der Grundschule auf einem Klavierwettbewerb, zwei jüdische Mädchen sind neben ihr die Favoritinnen. „Ich wünschte, ich hätte nur ein bisschen jüdisches Blut in mir“, sagt sie zur Mutter. „Sei zufrieden mit deinem südafrikanischen“, antwortet Helga Uys. Sie lebt in einem Land, das eine richtige und eine falsche Rasse kennt, es muss ihr bekannt vorkommen. Sie spricht nicht darüber. „Es muss sie verfolgt haben“, schreibt ihre Tochter.
1946 schickt Franz Michels einen Brief aus Deutschland, Helga Uys antwortet 4. Juli 1946: „Mein lieber, lieber Franz, Ist es möglich, das ich Dir wieder schreiben kann? … Und die Hauptsache: Du lebst, es geht dir gut, und Du bist verheiratet. Ich weiß nur, dass Deine Frau ‚Friedel‘ heißt und ‚die Richtige‘ ist. Ich bin unendlich froh darüber. Ich habe mich sehr gesorgt um Dich alle diese Jahre, nun ist alles gut geworden. Wir beide haben für etwas Unmögliches gekämpft, wir haben gemeinsam höchstes Glück und größtes Leid erfahren, dann hat ‚der böse Zauberer‘ uns auseinander gestoßen, und an der einen Seite stand Hannes, und an der anderen Friedel, und nun ist alles gut!“
1956 reist Helga Uys nach Deutschland, ihr Mann will sie begleiten, doch sie fährt alleine. In Frankfurt trifft sie Franz Michels und seine Frau Friedel. Zurück in Südafrika versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Seit dem Besuch in Deutschland fällt sie immer wieder in Depressionen. „Everybody who knew my mother, loved her“, schreibt Tessa Uys, weil sie nicht möchte, dass nur das Traurige bleibt. „She was an exceptional woman. Talented, beautiful, kind, amusing, a wonderful teacher, pianist, cook, mother and wife“.
1961 reist Helga Uys mit ihrem Mann zu Franz und Friedel Michels, 1964 nimmt sie ihre Tochter mit nach Berlin. Sie zeigt ihr die Museen, sie sehen sich Checkpoint Charly an, natürlich gehen sie ins Konzert. Sie besuchen Franz und Frieda und feiern Weihnachten mit ihnen. Tessa ist aufgeregt, sie ist 16 Jahre alt und zum ersten Mal in Europa. „Ich bedaure meine Ignoranz“, sagt Tessa Uys, „ich habe all die Fragen nicht gestellt.“ Vielleicht hätte sie etwas über das Berufsverbot erfahren, über das Leben in Berlin. Aber wie kann man einem Kind davon erzählen, dass es mehrere Wahrheiten gibt, eine für das neue und eine für das alte Leben, dass man froh sein kann über die Gegenwart und nicht hinwegkommt über den Bruch mit der Vergangenheit?
1969 nimmt sich Helga Uys nach einer langen Depression das Leben, im folgenden Jahr stirbt Franz Michels. Helga Uys hat vor ihrem Tod nichts weggeworfen, nicht den Fahrschein von Southhampton, nicht das Telefonbuch, nicht die Briefe, nicht einmal den von der Reichsmusikkammer. Sie muss gewusst haben, dass ihre Tochter sie nach ihrem Tod findet, muss es zumindest in Kauf genommen haben. Tessa Uys entscheidet, dass der Blüthner nach 69 Jahren zurückkehren soll nach Deutschland, ins Jüdische Museum nach Berlin. Der Blüthner hat zwei Weltkriege, das Naziregime und die Apartheid überstanden. Er soll zurück nach Hause und dort warnen vor seiner eigenen Geschichte.
In Südafrika gibt Tessa Uys ein Abschiedskonzert, es kommen Freunde ihrer Mutter aus Berlin, Flüchtlinge wie sie, ein 94-Jähriger und eine 89-Jährige, es kommen die Chorkinder, die ihr Vater unterrichtet hat, der Besitzer des Internetcafés und der Friseur. Sie spielt bis zwei Uhr in der Nacht, Beethoven, Schumann und Schubert und zum Schluss, als schon drei Beine abgeschraubt sind, spielt sie die südafrikanische Nationalhymne, und der Mann, der den Flügel hochhält, nimmt seinen Hut ab.
Nach sechs Wochen Reise kommt er im Hamburger Hafen an. Jetzt steht er in der Blüthner-Fertigungshalle in Leipzig neben den neuen Klavieren. Die neuen sind in grauem Filz gepackt, sie sehen aus wie Turnierpferde in ihren Schabracken, bevor sie in alle Welt verschickt werden. Der alte Blüthner muss nur noch nach Berlin.