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Archiv-Artikel

Westerweiterung

Die Montagsdemo wird vom Ostphänomen zur ostwestdeutschen Bewegung

BOCHUM/DORTMUND/MAGDEBURG taz ■ Das ist das Ende der Montagsdemos, glaubten manche in der vergangenen Woche. Denn Rot-Grün ist einen Schritt auf die Demonstranten zugegangen und hat bei Hartz IV nachgebessert. Auch DGB-Chef Michael Sommer meinte, nun werde sich zeigen, ob die Demos nur ein „Strohfeuer“ waren. Die Menschen, die am Montag erneut gegen Hartz IV auf die Straße gingen, haben bewiesen, dass der Protest weiter lodert: Es waren beinahe doppelt so viele wie in der Woche zuvor. In rund 100 Städten haben 80.000 Menschen demonstriert – nach wie vor überwiegend in Ostdeutschland. Nur 6.000 Menschen gingen gegen Hartz IV auf die westdeutschen Straßen.

„Jetzt erst recht“

Die größte Demo fand mit 20.000 Teilnehmern in Leipzig statt, beinahe genauso viele marschierten bei der ersten Berliner Montagsdemo vom Alexanderplatz zur SPD-Zentrale. Zu den Losungen „Wir sind das Volk“ und „Hartz IV muss weg“ kamen solche wie „Jetzt erst recht“ hinzu. Die Demos bleiben, zumindest vorerst. Denn die Demonstranten werten die Nachbesserungen bei Hartz IV lediglich als „Knochen, der ihnen vorgeworfen wurde“. Damit wollen sie sich nicht zufrieden geben.

Zudem wird bei den Demonstrationen im Osten immer deutlicher, dass es den meisten nicht nur um Hartz IV geht. Hier entlädt sich der aufgestaute Frust der vergangenen 15 Jahre. Sie würden wie „Menschen zweiter Klasse“ behandelt, wie „genetischer Abfall“, ereifert sich eine Demonstrantin in Magdeburg. Die hier auf die Straße gehen, fühlen sich als Ostdeutsche vom Westen abgehängt. „Wir bauen die Mauer wieder auf, dieses Mal noch höher“, ruft eine 21-jährige bei der Magdeburger Demo.

Angesichts der doppelten Wut im Osten ist es nicht verwunderlich, dass die Proteste in Westdeutschland vergleichsweise mickrig ausfallen: 600 Demonstranten kamen zum Kölner Dom, 200 waren es in München und nur 30 nahmen an der zweiten Hamburger Montagsdemo teil. Lediglich in Nordrhein-Westfalen scheint der Protest zu wachsen. Im Vergleich zur Vorwoche hat sich die Zahl der Montagsdemonstranten hier von 1.000 auf 4.500 erhöht. Wie in Ostdeutschland sind es auch hier die von Hartz IV Betroffenen: vor allem Langzeitarbeitslose und entlassene Arbeiter. Hinzu kommen, anders als im Osten, diejenigen, die sich betroffen fühlen: linke Gewerkschafter und Altkommunisten. Die Organisatoren feiern ihre ersten – wenn auch kleinen – Erfolge. „Wir sind dreimal mehr Leute als letzte Woche. Nächsten Montag verdreifachen wir nochmal“, sagt Martin Pausch, Organisator der Dortmunder Montagsdemo. 1.500 Menschen hat der arbeitslose Privatmann in dieser Woche gegen Hartz IV auf die Straße gebracht. In Bochum und Gelsenkirchen waren es jeweils immerhin 500.

Eines ist für die Hartz-Gegner im Ruhrgebiet klar: „Den Menschen geht es hier genauso schlecht wie im Osten“, sagt Hartmut Lohse vom „Anti-Hartz-Bündnis NRW“, einem Zusammenschluss von Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaftern und Privatorganisationen. Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote in Gelsenkirchen mit 16 Prozent und Dortmund mit 14 Prozent nur wenig unter dem Ostniveau.

„Die Arbeitslosen hier warten darauf, dass andere den Anfang machen“, sagt Lohse. Namentlich warten sie auf die Gewerkschaften, in NRW eine Macht. Doch gerade ihre Landesverbände, die über Organisationsstrukturen verfügen, weigern sich bislang, zu den Demos aufzurufen. Sie warten bis Oktober ab – bis zur Kommunalwahl in NRW.

Hymne auf dem Domplatz

In Magdeburg gingen jedoch ohne Unterstützung der Gewerkschaften auch in dieser Woche wieder 15.000 Menschen auf die Straße. Bernd Sickel ist hier neben InitiatiorAndreas Erholdt Organisator. Er steht auf der Ladefläche eines Lastwagens, formt die rechte Hand zum Victory-Zeichen und ruft ins Mikrofon: „Wir haben ein Etappenziel erreicht, aber das sind doch keine wirklichen Nachbesserungen.“ Dann schallt der eigens komponierte Rocksong „Hartz muss weg“ über den Magdeburger Domplatz. Eine Hymne wird er wohl nie, die Menschen jubeln trotzdem.

Die Magdeburger wissen, dass sie endlich mal Vorreiter sind. Sie wissen, dass sie etwas erreicht haben. Sie werden zu der Großdemonstration am 3. Oktober nach Berlin fahren. Ob sich die Proteste darüber hinaus halten können, hängt davon ab, ob sich mehr Menschen im Westen mobilisieren lassen. Spätestens dann kann Rot-Grün die Montagsdemos nicht mehr als Ostproblem abtun. KLAUS JANSENSASCHA TEGTMEIER