anti-hartz-demo
: Das Pathos der Unmittelbarkeit

Bei der Montagsdemo in Brandenburg an der Havel hielt vorgestern jemand ein Schild hoch: „Ich habe einen guten Schulabschluss und trotzdem keine Arbeit. Sieht so meine Zukunft mit Hartz IV aus?“ Dies ist der typische Ton der Anti-Hartz-Proteste. Er ist persönlicher, privater als gewöhnlich.

KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE

Denn meistens vertreten Demonstranten allgemeine Interessen – den Frieden am Golf, eine Republik ohne Nazis oder eine gewaltfreie deutsche Außenpolitik. Bei den Hartz-Demos gibt es mehr Ich. Es geht weniger um Meinungen als um eine spontane, direkte Wahrnehmung eigener Interessen. Das verleiht ihnen ein Art Pathos des Authentischen. Sie haben, was in unserem verwalteten Politikbetrieb zur knappen Ressource geworden ist: Unmittelbarkeit. Die Montagsdemos sind insofern elementare Demokratie. Daher ist das Medienecho wohl so überschwänglich und die Regierung so panisch.

Ihren Schwung hat die Bewegung, weil sie zum Ausdruck bringt, was schon seit langem schwelt. Die medialen und politischen Eliten beherrschen mit ihrem Reform-Mantra die öffentliche Debatte – während die Mehrheit der Gesellschaft dem Reformgerede schweigend misstraut. Mit Hartz IV hat dieses Misstrauen eine Projektionsfläche gefunden: Bislang hinterließen die technokratisch geführten Reformdebatten ein verwirrtes Publikum – nun ist fassbar, worum es geht. Wer arbeitslos ist, wird bald als Sozialhilfeempfänger behandelt. Dabei geht es nicht nur um ein paar Euro im Monat weniger, sondern um etwas viel Wesentlicheres: die Verweigerung von Anerkennung für Geleistetes. Deshalb ist die Wut so groß. Deshalb explodiert Hartz IV im Osten, wo das Gefühl, nicht als Bürger akzeptiert zu werden, sondern nur als gefälligst dankbares Objekt von Zuwendungen zu existieren, zur mentalen Grundausstattung geworden ist.

So zeichnet sich die Dramaturgie des Herbstes klar ab: Die SPD wird im September in Sachsen und Brandenburg verlieren, die PDS gewinnen. Am 3. Oktober wird Berlin eine erfolgreiche Großdemo erleben. Und was kommt dann? Die spontane Masse, hat Elias Canetti einst bemerkt, will wachsen. Wenn sie nicht mehr wächst, zerfällt sie. Wenn klar ist, dass Hartz IV nicht zu kippen ist, wird dieser Zerfall beginnen. Wie kläglich, dass der Zerfall der Bewegung das Einzige ist, auf das die Schröder-SPD realistischerweise noch hoffen kann.