: Mörder ohne Gegenpart
Wer war Jürgen Bartsch? „Ein Leben lang kurze Hosen tragen“, ein Film von Kai S. Pieck, setzt die Introspektion des Kindermörders postum in Szene – und sucht die Antworten im Ausstattungsdetail
VON DIETMAR KAMMERER
Jürgen Bartsch war 15, als er seinen ersten Mord beging, und 19, als man ihn verhaftete. Zwischen 1962 und 1966 entführte, missbrauchte und tötete der Jugendliche vier halbwüchsige Jungen. Der erste Mord geschah noch ungeplant, den zweiten schob er drei Jahre hinaus, bis er es nicht mehr aushielt. „Es hatte mich zu sehr in den Klauen. Also hab ich eben weitergemacht.“ Nach seiner Festnahme hatte die Öffentlichkeit schnell eine Erklärung parat. Die „Bestie von Langenberg“, der „Teufel in Menschengestalt“, saß auf der Anklagebank. Das Gericht brauchte acht Verhandlungstage, um zu einer Einschätzung und einem Urteil zu finden: voll zurechnungsfähig trotz seines jugendlichen Alters, die Haftdauer fünfmal lebenslänglich. Erst beim Revisionsverfahren wurde ein milderes Strafmaß verhängt; Bartsch in eine psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen.
Wegsperren oder therapieren? Die Mühe auf sich nehmen, das Unverstehbare zu rationalisieren, oder den Lebenslauf eines jugendlichen Mörders für sich selbst sprechen lassen? Der Film, der auf Dokumenten des wirklichen Falles beruht, versucht beides. In einem langen Monolog, inszeniert als „authentische“ Videoaufzeichnung einer Therapiesitzung, versucht der erwachsene Jürgen Bartsch (Tobias Schenke) sich und dem Zuschauer Rechenschaft abzulegen über seine Taten. Eingeschoben sind Szenen seiner Jugend als einziges Kind eines emotionsarmen Ehepaares, das ihn, wie der Knabe (Sebastian Urzendowsky) nur durch Zufall erfährt, adoptiert hat. Die Stationen seiner Jugend lauten Kinderheim, katholisches Internat, Lehre in der Metzgerei seines Vaters. Detailverliebt rekonstruiert der Film die Atmosphäre und das Kolorit eines Kleinstadtlebens im Deutschland der 50er- und 60er-Jahre. Ein filmisches Ablenkungsmanöver, wie sich bald herausstellt. Denn warum Bartsch zum Mörder werden konnte, wird man von den Ausstattungsdetails nicht erfahren, und genauso wenig von den Bruchstücken seiner Biografie. Lieblose Erziehung, Mangel an gleichaltrigen Freunden, die seelische und körperliche Gewalt in der katholischen Knabenschule, die gleichgeschlechtliche Liebe als Sünde verteufelt und dennoch die ideale Stätte der Erziehung zur Homosexualität darstellt, wie Bartsch im Nachhinein lapidar feststellt.
Die Faszination des Kinos für den Sexualstraftäter hat eine lange Geschichte. Für Fritz Lang war die Figur des Kindsmörders noch das schlicht Unmögliche, nicht zu erklären, höchstens zu benennen durch ein Zeichen: „M“. Ihn interessierte nicht die Psyche des Täters, der weitgehend stumm blieb, sondern die Reaktionen der Gesellschaft, die sich am Umgang mit ihm erproben muss. 60 Jahre später hat Romuald Karmakar im „Totmacher“ Langs historischem Vorbild einen Namen gegeben und reichlich Raum zum Reden. Aber bei aller Konzentration und inszenatorischen Verdichtung als Kammerspiel blieb Karmakars Figur nicht ohne Gegenpart – in diesem Fall der Arzt, der das psychiatrische Gutachten zu erstellen hatte. Solche eine vermittelnde Figur fehlt im Film von Kai S. Pieck völlig. Er lässt Bartsch frei in die Kamera sprechen, lässt ihn auf unbeholfene Art direkt um die Gunst des Zuschauers werben.
Solche Quasi-Live-Dramaturgie und der Verzicht auf andere Stimmen bringen uns vielleicht der Figur, kaum aber einer Erklärung näher. Gerne hätte man mehr erfahren über die Reaktionen von Bartschs Mitwelt und die Zeit nach seiner Verhaftung. Was seine Erzieher über ihn ausgesagt haben, die katholischen Priester, die Eltern. Wie das Rechtssystem mit solch einem Fall umgeht. Warum er, in der geschlossenen Anstalt, noch eine Krankenschwester heiratet. Warum er selbst erst eine Gehirnoperation beantragt, dann eine Kastration. Eine Entscheidung, die ihn das Leben kostete: Jürgen Bartsch starb 1976 auf dem Operationstisch, an einem Narkosefehler.