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Archiv-Artikel

Eine Fülle möglicher Ziele

Noch ist unklar, was die Münchner Neonazis um Martin Wiese mit 1,7 Kilogramm TNT in die Luft sprengen wollten. Inzwischen gibt es zehn Haftbefehle

„Früher war es der Türke, heute ist es der Jude“ (Ein Verfassungsschützer)

Aus München JÖRG SCHALLENBERG

Wo sollte die Bombe hochgehen? Oder sollten es gleich mehrere sein? Für die 1,7 Kilo TNT und weitere 12,3 Kilo sprengstoffverdächtiges Material, die vor einigen Tagen bei zwei Münchner Neonazis sichergestellt wurden, gab es anscheinend gleich eine ganze Reihe von möglichen Zielen. Wie der Spiegel in seiner heutigen Ausgabe berichtet, haben Fahnder in der Wohnung des Hauptverdächtigen Martin Wiese eine Liste mit den Adressen jüdischer und muslimischer Einrichtungen sowie einer griechischen Schule im Münchner Raum, aber auch spanische und italienische Ziele entdeckt. Die Ziele seien aus dem Internet herausgesucht worden. Laut Informationen des Focus hat das bayerische Landeskriminalamt aus abgehörten Telefonaten erfahren, dass die Rechtsextremen um Wiese und dessen Bekannten Alexander Metzing planten, am 9. November während der feierlichen Grundsteinlegung für das jüdische Gemeinde- und Kulturzentrum in der Münchner Innenstadt eine Rohrbombe zu zünden, die in einem Haus am St.-Jakobs-Platz versteckt werden sollte. An der Feier sollen neben Bundespräsident Johannes Rau der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, CSU-Chef Edmund Stoiber und weitere Prominente teilnehmen.

Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat mittlerweile insgesamt zehn Haftbefehle erlassen, mehrere davon wegen Mitgliedschaft in einer Terroristischen Vereinigung. Unter den Verhafteten sind auch drei Männer aus Brandenburg, die Granaten beschafft haben sollen, aus denen die Münchner „dann in mühseliger Kleinarbeit das TNT herausgepult haben“, wie ein LKA-Experte sagt. Bei einem der Verdächtigen aus Brandenburg, bei denen auch Sprengstoffzünder gefunden wurden, handelt es sich um ein langjähriges NPD-Mitglied, die Münchner Verdächtigen waren allesamt in der „Kameradschaft Süd“ organisiert. Diese Erkenntnisse und die offenkundige Verflechtung von Neonazis über ganz Deutschland haben Diskussionen über die Strukturen der rechtsextremen Szene ausgelöst.

Bayerns Innenminister Günter Beckstein (CSU) sprach von einer neuen „Dimension der Gefährlichkeit“ und warnte vor einer „Braunen Armee Fraktion“. Angesichts solcher Bedrohungen forderte Beckstein eine Stärkung des Verfassungsschutzes und schärfere Maßnahmen zur „präventiven Verbrechensbekämpfung“, etwa eine Ausdehnung von Abhörmaßnahmen. Seiner Einschätzung widersprechen allerdings nicht nur Rechtsextremismus-Experten, sondern auch Bundesinnenminister Otto Schily (SPD).

„Die Strukturen sind nicht so, dass wir einen Vergleich mit der 70er-Zeit der Roten Armee Fraktion wählen könnten und sollten“, betonte Schily in einem Fernsehinterview – und warnte zugleich davor, „in eine allgemeine Alarmstimmung“ zu verfallen. Er kündigte allerdings eine verstärkte Beobachtung der rechtsextremen Szene an und forderte, dass die Ermittlungen der einzelnen Landesämter für Verfassungsschutz besser vernetzt werden sollten.

„Die Strukuren sind nicht so, dass wir einen Vergleich mit der RAF wählen sollten“

Die niedersächsischen Verfassungsschützer bewerten die jüngsten Sprengstofffunde als Indiz dafür, dass der Antisemitismus innerhalb der rechten Szene zunimmt. Einer der Gründe dafür sei die internationale Vernetzung der Rechtsextremen, deren gemeinsamer Nenner der Antisemitismus sei. Früher war es der Türke, heute ist es der Jude“, sagte Verfassungsschutzsprecher Rüdiger Hesse in Hannover. Nach Ansicht des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst, wurde die rechtsradikale Problematik in den vergangenen Jahren zu leicht genommen: „Wir haben nicht mehr das Gefühl gehabt, dass die Rechten echte Straftäter sind.“

Diese Einschätzung dürfte allerdings spätestens nach Aufdeckung der Anschlagspläne von München ad acta gelegt werden, zumal in den vergangenen Jahren immer wieder Waffen und Sprengstoff bei Neonazis gefunden wurden. Im Dunkeln blieb fast immer die Herkunft des gefährlichen Materials. Im Münchner Fall verlautete aus Kreisen der Ermittler, die Granaten seien von ostdeutschen Truppenübungsplätzen entwendet worden. Unklar ist, ob und von wem organisierte Neonazis Geld beziehen. Im Hinblick auf den Aktivisten Martin Wiese gestand der Münchner Polizeivizepräsident Jens Viering ein: „Wir beobachten ihn schon seit langem, aber womit der sein Geld verdient, da haben wir keine Ahnung.“ Fest steht dagegen, dass die Münchner Neonazis Ernst machen wollten. Die 1,7 Kilogramm TNT, die gefunden wurden, waren schon beinahe als Bombe einsatzbereit. Es fehlte lediglich der Zünder aus Brandenburg.