: Die Zeit Brenners läuft ab
Erdrutschsieg bei Wahlen zum jüdischen Gemeindeparlament: Liste des Notars Meyer klarer Sieger. Russischsprachige deutlich unterrepräsentiert. Gemeindechef Brenner: kaum Chance auf Wiederwahl
von PHILIPP GESSLER
Die größte jüdische Gemeinde der Bundesrepublik steht vor einem Umbruch: Nach den gestern veröffentlichten Ergebnissen der Wahlen zum Gemeindeparlament, zur Repräsentantenversammlung (RV), dürfte der jetzige Gemeindechef Alexander Brenner, 73, am 22. Oktober abgewählt werden. An diesem Tag werden die Repräsentanten den fünfköpfigen Gemeindevorstand wählen, aus dem dann der Kopf der Gemeinde bestimmt wird. Die Wahlen zur RV hat die Liste „Kadima-Vorwärts“ des Rechtsanwalts und Notars Albert Meyer mit Zweidrittelmehrheit gewonnen. Der 56 Jahre alte Meyer kann mit dieser Mehrheit leicht Gemeindechef werden. Sein Interesse an dem Posten hat er schon bekundet (siehe Interview).
Den Durchmarsch der Meyer-Truppe hatte niemand in der Gemeinde erwartet. Meyer und Brenner zeigten sich überrascht über das deutliche Ergebnis. Der Urnengang war nötig geworden, nachdem sich die RV im März nach zweieinhalbjähriger Amtszeit vorzeitig selbst aufgelöst hatte. Die Differenzen im Vorstand der Gemeinde und die harten Streitigkeiten in der RV machten es unmöglich, die Gemeinde zu führen – und das, obwohl Führung bei einem Defizit von 1,6 Millionen Euro im Etat dringend nötig gewesen wäre.
Von den 12.000 Mitgliedern der Gemeinde waren knapp 10.000 wahlberechtigt. Etwa 3.800 nahmen an der Wahl teil, das sind 39,8 Prozent der Wahlberechtigten. Erstaunlich hoch war die Zahl der Wahlbriefe: 1.757, also fast die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Brenner hatte mit 1.657 Stimmen die meisten Befürworter hinter sich. Dahinter kam Meyer mit 1.622 Stimmen. Während Brenner jedoch ohne Unterstützung einer Liste antrat, hat Meyer die Kadima-Liste hinter sich. Sie errang 16 von 21 Sitzen in der RV.
Brenner zeigte sich angesichts seines persönlich guten Ergebnisses erfreut über den Ausgang der Wahl. Ob er noch einmal als Gemeindevorsitzender antreten werde und Chancen habe, das sei „alles offen“ und abhängig von den Absprachen, die in den kommenden Wochen unter den Repräsentanten liefen.
Meyer wie Brenner zeigten sich verwundert, wie gering der Anteil der russischsprachigen Zuwanderer in der RV sei. Obwohl bei den Gemeindemitgliedern klar in der Mehrheit, sind sie in der RV deutlich in der Minderheit. Brenner vermutet, ein Grund für dieses Ergebnis sei die geringere Wahlbeteiligung der Zuwanderer. Die Kadima-Liste habe es dagegen vermocht, mit guter Wahlkampforganisation und Werbung viele Stimmen zu gewinnen.
Einige Überraschungen gab es auch bei den Namen der gescheiterten Bewerbungen um einen Sitz in der RV. So ist der liberale Rabbiner Walter Rothschild nicht mehr im Gemeindeparlament vertreten. Er erreichte nur den undankbaren 22. Platz. Rausgefallen sind auch Cynthia Kain, die Sozialdezernentin der Gemeinde, und Boris Schapiro, der Bildungsdezernent. Nach zwei Jahren wieder dabei ist dagegen der Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, Julius Schoeps. Mit Meyer gehört er zu den profiliertesten liberalen Juden Berlins. Insgesamt haben die russischsprachigen Zuwanderer und die Orthodoxen an Einfluss verloren.