: Glück in der Baumkrone
Die Liebe ist nicht mehr das Geschäft von Mann und Frau, sondern das von einer Menschheit miteiner anderen: Das Arsenal zeigt Filme der frankoschweizerischen Regisseurin Anne-Marie Miéville
VON ANKE LEWEKE
Stellen wir uns einen ganz normalen Pariser Frühlingsnachmittag vor. Zwei Frauen am Tisch sind in eine Unterhaltung vertieft. Die Nähmaschine surrt, es wird Maß genommen und geschnitten. Manchmal seufzt die eine, während die andere unbeirrt weiterarbeitet. Ohne Ton könnte man die Szene für ein reges Kaffeekränzchen halten. Doch die beiden rezitieren aus Platons philosophischem Dialog „Gorgias“. Im schicken bourgeoisen Outfit gibt Aurore Clément den wissbegierigen Schüler, ihre Kollegin Bernadette Lafont spielt Sophokles als leicht barschen Lehrer im Ringelsweatshirt.
In Anne-Marie Miévilles Film „Nous sommes tous encore ici“ – „Wir sind alle noch da“ (1997) wird Platons Diskurs über Gerechtigkeit und Gleichheit vom Philosophensockel gestoßen und in die lockere Atmosphäre eines vertrauten Freundinnengesprächs transferiert. Es ist die Leichtigkeit der Inszenierung, es sind die banalen Umstände, die Platons über 2.000 Jahre alten Disput hier ganz selbstverständlich in die Gegenwart ziehen. Ihren großen Schlussmonolog hält Lafont vor dem Spiegel, wobei sie sich mit festem Strich die Lippen schminkt und mit wunderbar koketter Geste die Synthese von Philosophie und weiblicher Alltagsroutine vollzieht.
Seit je arbeitet die frankoschweizerische Regisseurin Anne-Marie Miéville mit Zitaten, Versatzstücken aus Literatur, Kunst und Philosophie. Auf Platons „Gorgias“ folgt in „Nous sommes tous encore ici“ ein musikalisches Intermezzo in der Natur. Danach wird auf karger Bühne ein Auszug aus Hannah Arendts berühmtem Essay „Das Wesen des Totalitarismus“ vorgetragen. Miévilles Film „Lou n’a pas dit non“ – „Lou hat nicht Nein gesagt“ wiederum basiert auf einem Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé und entwickelt die komplizierte Innensicht eines modernen Paares. Auch wenn Lou und Pierre sich lieben, können sie sich nicht auf ein gemeinsames Leben einlassen. Antwort auf ihre Unfähigkeit, zueinander zu finden, erhoffen sie sich in den Künsten. Lou dreht einen Film über eine Mars-und-Venus-Skulptur im Louvre, Pierre zieht sich in sein Zimmer zurück und hört Mahler. Einmal besuchen sie gemeinsam ein Ballettstück. In einer großartigen, fast zehnminütigen Tanzsequenz werden alle Aspekte des vertrackten Beziehungsgeflechts zwischen Mann und Frau erörtert – Lust, Liebe, Begehren, Eifersucht, Machtverhältnisse. Im Theatersaal sind Pierre und Lou Zuschauer ihrer eigenen Ängste und Unsicherheiten. Die Kunst ist ein Spiegelkabinett, das private Probleme und Unzulänglichkeiten auf einer universellen Ebene reflektiert, doch Miéville nimmt sie nicht zu ernst, sondern setzt sie spielerisch ein.
Stets wird in Miévilles Filmen emsig zitiert und rezitiert, geredet und gestritten. Dabei erinnert die Freude an Esprit und Sprache an die wunderbar dahinperlenden Marivaux-Stücke. Die Settings sind großbürgerlich, elegante Pariser Wohnungen, Villen am Genfer See. In gepflegter Atmosphäre kommen Miévilles Figuren zur lustvollen Konversation zusammen. Trotz des unermüdlichen Redeflusses will man nicht von einem wortlastigen Werk sprechen. Vielmehr verschafft die Regisseurin den Worten und Sätzen, den sprachlichen Sedimenten der Kultur einen kinematografischen Raum. In ihren klaren, lichten Bildern finden die von Miéville versammelten Gedanken einen Resonanzboden, der ihnen einen wohltuenden, niemals aufdringlichen Nachhall verleiht.
In ihrem bisher letzten Film „Aprés la réconciliation“ – „Nach der Aussöhnung“ spazieren zwei Frauen durch einen lichten Wald. Die Sonne fällt durchs Laub, Blätter rauschen, Vögel zwitschern. Die Natur bildet den Rahmen für einen Dialog über den Gebrauch und die Bedeutung von Worten. „Was meint das Wort Glück?,“ fragt sich eine der Spaziergängerinnen. Die Kamera verharrt in einer Baumkrone, lässt die Frage für sich stehen.
Immer wieder gönnen sich Miévilles Filme solche Auszeiten, verharren auf den Gegenständen, werfen einen erholsamen Blick aus dem Fenster oder zeigen ein Blümchen am Straßenrand. Auch für die dazugehörigen Geräusche öffnen sich die Filme. Man hört das Rauschen des Verkehrs, das sanfte Plätschern eines Sees oder das Stimmengewirr in einem Café. Bild, Ton, Worte und Musik stehen gleichberechtigt nebeneinander, bilden ein fragiles, komplexes Geflecht, das an die Filme von Jean-Luc Godard erinnert. Nicht aus Zufall: Seit über zwanzig Jahren bilden Miéville und Godard eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Schon seit langem schneidet Miéville seine Filme. Sie war die Co-Autorin bei „Numéro deux“ (1975), „Sauve qui peut (la vie)“(1979) oder „Prénom Carmen“ (1982). Während Godards Filme jedoch mehr und mehr das aktuelle Zeitgeschehen betrachten, kreisen ihre Filme weiterhin um Mann und Frau.
Bei ihrem ersten Langfilm „Mon cher sujet“ – „Meine liebste Geschichte“ (1988) glaubt man sich in einer Verfilmung postmoderner Feminismustheorien. Drei Frauengenerationen – Tochter, Mutter, Großmutter – versuchen sich in neuen Rollenbildern, nehmen dafür Einsamkeit und die Auseinandersetzung mit dem Ehemann oder Lebensgefährten in Kauf. Doch Miévilles Filme glauben an eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Liebe. Am Ende von „Lou n’a pas dit non“ heißt es mit Rilke: „Die Liebe wird nicht mehr das Geschäft von Mann und Frau sein, sondern das von einer Menschheit mit einer anderen.“
Einige Jahre und Filme später scheint dieses Zitat plötzlich wahr zu werden. Über eine Stunde lang diskutieren Godard und Miéville in dem autobiografisch angelegten Film „Nous sommes encore ici“ über ihre Beziehung. Mit einer zärtlichen Geste bietet Godard, der alte Grantler, ihr dann am Ende während eines nächtlichen Spaziergangs seine unförmige Pudelmütze an.