„Haydn hat mehr komponiert als ich“

Ein Gespräch mit dem Filmkomponisten Ennio Morricone über seine Zusammenarbeit mitder Sängerin Dulce Pontes, sein Amerikabild und die Formel für einen gelungenen Filmscore

INTERVIEW MICHAEL TSCHERNEK

taz: Warum haben Sie für die Zusammenarbeit an Ihrem neuen Album „Focus“ gerade Dulce Pontes ausgewählt?

Ennio Morricone: Sie ist eine großartige Sängerin, und ich hatte vorgeschlagen, sie einige Stücke für die Soundtracks von „Erklärt Pereira“ (1996) und „La Luz Prodigiosa“ (2003) singen zu lassen. Aus dieser ersten Zusammenarbeit ist dann die Idee entstanden, gemeinsam ein Album aufzunehmen. Man kann aber nicht sagen, dass ich sie ausgesucht hätte, vielmehr handelte es sich um eine gemeinsame Idee. Das Projekt wurde mir von ihrem Produzenten vorgeschlagen, und ich habe den Vorschlag angenommen.

Sie haben für die Platte sowohl neue Stücke komponiert als auch einige bekannte Stücke, die Sie ursprünglich für Filme geschrieben haben, neu arrangiert und orchestriert. Ist eine Fado-Sängerin dazu prädestiniert, den Gesang zu Ihrer Filmmusik zu liefern?

Nein. Es gibt absolut keinen Zusammenhang zwischen meiner Musik und dem Fado. Dulce Pontes hat durch ihren ganz persönlichen Stil meiner Musik etwas verliehen, was an Fado erinnert. Ich habe niemals Fado-Musik geschrieben, nicht einmal für den Film „Erklärt Pereira“, der in Portugal spielt.

Sie haben zahlreiche Werke komponiert, die nicht für Filme vorgesehen waren. Haben Sie bei der Komposition dieser Musik dennoch Bilder vor Augen?

Nein.

Können Sie die unterschiedlichen Vorgehensweisen beschreiben?

Die Filmmusik wird aus einer Geschichte und aus Geschehnissen in der jeweiligen Geschichte geboren. Ihre Entstehung hängt von der Umsetzung der Filmbilder, von den Kostümen, vom Drehbuch und so weiter ab. Sie entsteht also aus Bildern. Bei der traditionellen Komposition gibt es diese Komponenten nicht, die dem musikalischen Schaffen vorangehen. Dort gibt es lediglich den Geist des Komponisten, der durch ständige Verbesserung, Korrektur oder gar Zerstörung und Neubeginn das Projekt voranbringt.

Sie haben eine klassische Musikausbildung absolviert und sehr viel Musik neben Ihrer Arbeit für den Film komponiert. Bedauern Sie es, dass Sie vor allem wegen Ihrer Filmkompositionen wahrgenommen werden?

Manchmal finde ich es schade, dass die meisten Menschen nur 50 Prozent meiner Werke kennen. Das hat sich aber in letzter Zeit geändert. Meine Konzerte, in denen ich keine Stücke meiner Filmmusik präsentiere, sind gut besucht. Die Tatsache, dass die meisten Leute nur meine Filmmusik kennen, ist natürlich auch meine Schuld, oder mein Verdienst, weil ich mich ab einem bestimmten Punkt in meinem Leben verstärkt der Kinomusik gewidmet habe und dadurch bekannt geworden bin. In letzter Zeit ist es aber wirklich besser geworden.

Bedeutet die Arbeit an Filmkompositionen für Sie eher Freiheit oder Einschränkung?

Die absolute Musik, wenn wir sie mal so nennen wollen, bietet natürlich mehr Freiheiten. Das Werk und auch die Notwendigkeit, ein Werk zu schreiben, entspringt dem Geist des Komponisten – während es bei der Filmmusik immer einen Auftraggeber gibt, der die Musik beim Komponisten bestellt. Ein bestimmter Film, ein bestimmter Regisseur, eine bestimmte Geschichte und ganz viele andere Komponenten sind bereits vorgegeben. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten, Musik zu schaffen, ist also fundamental. Der Komponist und seine musikalischen Elemente sind aber immer dieselben.

Eröffnet die Arbeit an bestimmten Filmen manchmal auch Raum für Experimente?

Das hängt wesentlich vom Regisseur ab. Für den Erfolg einer Filmmusik ist es nicht nur wichtig, dass sie gut geschrieben ist, sondern auch, dass sie vom Regisseur respektiert wird. Um diese Voraussetzung zu umschreiben, benutze ich das einfache Wort „EST“. Das steht für E = energia (Energie), S = spazio (Raum), T = tempo (Zeit). Die Energie der Übertragung. Der Raum, die Räumlichkeit und der Boden des Klanges. Die Zeit und die Dauer. Die Klangquelle ist in der Filmmusik nicht sichtbar und auf eine bestimmte Art und Weise sogar mysteriös. Wenn also die Filmmusik nicht diese drei Bestandteile von Energie, Raum und Zeit mitbringt, die sich untereinander perfekt ergänzen müssen und die für den Zuhörer verständlich sein müssen, dann kann Filmmusik schön sein, aber sie bleibt zwecklos.

Europäische Komponisten haben häufig einen sehr eigenwilligen, romantischen Blick auf Amerika geworfen. Antonín Dvorák etwa mit seiner 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“. Welches Bild von Amerika hatten Sie bei Ihren Kompositionen für die Sergio-Leone-Filme vor Augen?

Mein Amerikabild von „Es war einmal in Amerika“ reflektiert die Handlung des Films. Das ist aber nicht das Bild, das ich persönlich von Amerika habe. Vielmehr handelt es sich dabei um die Reflexion einer Filmgeschichte, die einen Eindruck eines bestimmten historischen Moments in Amerika vermittelt. Die Zeit der amerikanischen Prohibition in all ihren menschlichen und politischen Facetten.

Ich meinte nicht nur den Film „Es war einmal in Amerika“, sondern auch die Dollar-Trilogie, bei der Sie mit Sergio Leone zusammengearbeitet haben und mit der eine ganz neue Form des Western aus europäischer Sicht geschaffen wurde. Ihre Musik hat dazu entscheidend beigetragen.

Ich hätte diese Musik auch für einen chinesischen Film verwenden können. Ich habe bei der Komposition nicht an amerikanische Folklore gedacht. Ich habe eine Musik geschrieben, von der ich dachte, dass sie zu diesem Film passt. Ich habe auch Instrumente verwendet, die nichts mit amerikanischer Folkloremusik zu tun haben. Im zweiten Film von Sergio Leone kommt beispielsweise eine Maultrommel vor. Das ist kein amerikanisches Instrument, sondern ein sizilianisches.

Es kam Ihnen also gar nicht darauf an, ein bestimmtes Amerikabild zu zeichnen?

Was man bei dieser Musik am ehesten der amerikanischen Folkloremusik zuordnen könnte, ist die Anwendung möglichst einfacher Harmonien von drei Akkorden bzw. Tönen. Diese Harmonien aus wenigen Tönen sind ganz unkompliziert und einfach. Aber das ist gleichzeitig auch ein Merkmal von italienischer Folkloremusik und von Folkloremusik aus ganz Europa.

Der schwedische Musikwissenschaftler Philip Tagg hat gesagt, dass die Musik, die ich für diesen Film geschrieben habe, auch einen keltischen Ursprung haben könnte, also gar nichts mit amerikanischer Folkloremusik zu tun habe. Aber auch diese Musik ist erst mit ihrer Ankunft in den Niederlanden zu keltischer Musik geworden. Ihre Wurzeln sind vielmehr im Orient beziehungsweise im Nahen Osten zu suchen, in der jüdischen Musik, in der griechischen und römischen Musik, in den gregorianischen Gesängen und im deutschen Minnesang. Und schließlich hat diese Musik ihren Weg über Irland auch nach Amerika gefunden. Die Herkunft dieser Musik geht also auf die Antike zurück. In Italien oder in Europa hat sie sich in den gregorianischen Gesängen konkretisiert. Aber die Wurzeln liegen in den christlichen Gesängen, den griechischen Gesängen und hebräischen Gesängen und in der Musik von Völkern, die noch viel älter sind. Die Ausgestaltung dieser Musik hat natürlich nach und nach stattgefunden. Das war ein langer Prozess.

Wenn ich jetzt die Pfeifmelodie aus „Eine Handvoll Dollar“ singen würde, klingt das ganz anders als die damalige Aufnahme für den Film – ich mache das jetzt einmal, um Ihnen meinen Gedankengang zu veranschaulichen. So können Sie es vielleicht besser verstehen (summt Thema des Films „Für eine Handvoll Dollar“). Das könnte ein gregorianischer Gesang sein. Wenn Tagg sagt, dass es keltisch klingt, ist das in Ordnung. Ich sage dagegen, dass es gregorianisch klingt. Und andere Personen würden vielleicht sagen, dass es griechisch oder hebräisch klingt. Die verschiedenen Formen von Musik sind das Ergebnis einer langen Entwicklung und sind auf den gleichen Ursprung zurückzuführen.

Warum haben Sie das Thema, das Sie gerade gesummt haben, und die gesamte Musik für den Film „Für eine Handvoll Dollar“ unter dem Pseudonym Dan Savio geschrieben?

Der Grund dafür war, dass der Produzent des Films alle Beteiligten gebeten hat, sich ein amerikanisches Pseudonym zuzulegen. Damit wollte er den Eindruck erwecken, dass es sich dabei um einen amerikanischen Film handelt.

Sie haben viele Angebote, nach Los Angeles zu ziehen, ausgeschlagen. Wollten Sie sich damit Hollywood bewusst entziehen?

Ja, das stimmt, Italien ist schon seit je meine Heimat und ich bevorzuge es, dort zu wohnen. Und seit dem 11. September bevorzuge ich es, auch nicht mehr in die USA zu fliegen.

Sie haben im Laufe der Jahre über 400 Film-Scores komponiert. Das macht in etwa einen Score pro Monat. Wie kann man in dieser Geschwindigkeit arbeiten?

Sie sind doch Deutscher, oder? Sie müssen sich nur einmal anschauen, wie viel Mozart oder Bach in kurzer Zeit geschrieben haben.

Spielt sich da eine gewisse Routine ein, wenn man derartig viel und schnell arbeitet?

Nein. Ein Komponist schreibt Musik, weil es sein Beruf ist und weil ihn diese Arbeit mit Passion erfüllt. Bei jeder Möglichkeit, zu komponieren und Musik zu schreiben, stürzt sich der Komponist aus Leidenschaft und mit Begeisterung auf die neue Herausforderung. Früher haben die Komponisten natürlich nicht für Filme komponiert. Damals wurden Kompositionen für Könige, Prinzen, Fürstentümer, Höfe, Staatsoberhäupter und so weiter geschrieben. Das waren also auch Auftragsarbeiten.

Die Tatsache, dass der Filmkomponist immer im Auftrag arbeitet, ist also ganz typisch für die Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte. Bach hat seine Kantaten für die Sonntagsmesse geschrieben und hat auch selbst Orgel gespielt. Auch Mozart hat im Auftrag komponiert und wurde dafür bezahlt. Haydn hat seine Abschiedssymphonie geschrieben, um seinen Auftraggeber musikalisch um Urlaub zu bitten. Haydn hat neben seinen anderen Werken 105 Symphonien geschrieben. 105 Symphonien! Im Vergleich zu mir hat er viel mehr komponiert.

Sie werden von vielen jungen Musikern verehrt, zitiert oder gesampelt. Erst kürzlich sind beispielsweise Zusammenstellungen unter dem Titel „Ennio Morricone Remixes“ erschienen. Was empfinden Sie dabei?

In einigen Fällen finde ich das Ergebnis sehr gut und in anderen Fällen sehr schlecht. Gut daran ist, dass meine Musik auf diese Weise die Zeit überlebt. So kehrt meine Musik nach längerer Zeit zurück und kommt wieder in Mode … Nein, Mode ist das falsche Wort dafür. Besser: Dann erfreut meine Musik die Menschen erneut.