: Zurück in die Steinzeit
Wo nutzlose Gebrauchsanweisungen von technischen Geräten heiliger sind als Bändchen mit Puschkin-Gedichten: Die russische Schriftstellerin Tatjana Tolstaja attackiert mit ihrem fantastischen Roman „Kys“ nicht nur die postsowjetische Gesellschaft
von KATHARINA GRANZIN
Zehn Jahre soll Tatjana Tolstaja gebraucht haben, um dieses Buch zu schreiben. Das ist eine lange Zeit für gerade einmal 350 Seiten. Zwar war die Autorin in jenem Jahrzehnt auch sonst nicht untätig und erschrieb sich mit Erzählungen und Essays ein großes literarisches Renommee. Dennoch fragt man sich, warum sie die Arbeit an diesem Roman, ihrem ersten, offenbar immer wieder nach hinten verschob. Möglicherweise war es sogar der als intellektuell unbestechlich geltenden, durchaus scharfzüngigen Tolstaja zu anstrengend, fortwährend so böse sein zu müssen. Und wenn „Kys“ eines ist, dann das: ziemlich böse.
In Russland wurde der Roman, der gern versuchsweise in die Schubladen „Fantastische Literatur“ oder „Science Fiction“ geschoben wird, vor allem als Metapher auf die nachsowjetische Zeit gelesen. Das aber ist nicht die ganze Wahrheit. Die klassischen Prototypen, die Tolstaja als Romanfiguren verwendet, und die scheinbar traditionelle, am ehesten dem 19. Jahrhundert entstammende Erzählweise, verweisen auf einen wesentlich weiteren Bezugsrahmen.
Am liebsten, so ist zu vermuten, sähe Tolstaja sich wohl selbst in einer exklusiven Schublade mit dem großen Erzähler Andrej Platonow. Ähnlich wie jener sich in den Zwanzigerjahren nur oberflächlich am Revolutionsthema abarbeitete, stets aber den Menschen im Universum an sich zu meinen schien, spielt Tolstaja mit aktuell geladenen Assoziationen, um dahinter eine Attacke auf die russische Gesellschaft schlechthin zu fahren. Auch ihre Erzählweise ist deutlich von Platonow inspiriert; irritierend und anziehend zugleich wird sie durch den offensiv eingesetzten Kontrast zwischen herkömmlicher, irgendwie gemütlicher Erzählerei und dem surrealistischen, oft grausamen Inhalt.
„Kys“ spielt zweihundert Jahre nach etwas, was der große Knall genannt wird und die russische Gesellschaft in die kulturelle Steinzeit zurückgeworfen hat. Mäuse sind das Hauptnahrungsmittel, und als besondere Delikatesse gelten radioaktiv leuchtende „Feuerlinge“, die auf Bäumen wachsen. Das Wissen um das Feuer selbst aber haben die Menschen verloren, und das Rad ebenso wie das Joch sind gerade erst vom Diktator Fjodor Kusmitsch erfunden worden.
Auch alle Bücher, die per Hand auf Birkenrinde geschrieben werden müssen – die Erfindung des Papiers steht noch aus – stammen angeblich von Fjodor Kusmitsch. Aberglaube, Grausamkeit und Dummheit beherrschen das Leben. Sie finden ihre metaphorische Entsprechung in der „Kys“, die, so geht der Volksglaube, in den nördlichen Wäldern darauf lauert, den Menschen das Rückgrat zu brechen. Deshalb geht keiner nach Norden; und auch nicht nach Süden, da dort die „Tschetschenen“ leben, oder nach Westen, da dann das Heimweh allzu übermächtig wird.
Ein prächtiges Exemplar Mensch dieser Steinzeitgesellschaft ist der junge Schreiber Benedikt, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, ein Tor so tumb und unsympathisch, dass sich nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe zarter besaitete Kritiker gar veranlasst sahen, nach einem positiven Helden zu rufen. Nach einem wie Nikita Iwanytsch, Benedikts Gegenpol, der als ein „Voriger“ den großen Knall überlebt hat und nun nur noch eines unnatürlichen Todes sterben kann. Als Idealist alten Schlages vermag Nikita Iwanytsch auch in Benedikt nur Gutes zu sehen und in ihm an den „neuen Menschen“ zu glauben. Doch jedes edlere Streben wird in Benedikt pervertiert. Die holde Olga, seine Braut, entpuppt sich als Monster mit Krallen an den Füßen und Tochter des obersten Geheimdienstoffiziers. Benedikt seinerseits entwickelt einen unersättlichen Appetit auf „alt gedruckte“ Bücher, die er, ohne ihre philosophischen und moralischen Botschaften zu verstehen, verschlingt wie seine neue Verwandtschaft ihr tägliches Festmahl, und er wird in seiner Sucht nach auf Papier Gedrucktem, das die Menschen zu Hause verstecken, selbst zum gefürchteten Geheimpolizisten und Totschläger.
Der Topos des Buches als Symbol des freien Gedankens erfährt bei Tolstaja eine groteske Wendung, denn dieser aller Zivilisation beraubten Gesellschaft ist jede Kultur unendlich fern. Auch die „Vorigen“ schätzen die versteckten Bücher nicht ihres geistigen Wertes wegen, sondern als Symbol eines Zeitalters des Wohlstands und der Bequemlichkeit. Die nutzlose Gebrauchsanweisung eines technischen Gerätes ist ihnen heiliger als ein Bändchen mit Puschkin-Gedichten.
Ob hier nun der russische Mensch als solcher oder nur der Nachwendematerialist getroffen werden soll: Tolstaja entwirft eine trostlos-bittere Zustandsbeschreibung der russischen Gesellschaft. Gleichzeitig aber ist „Kys“ ein amüsant und flott zu lesender Roman, der mit satirischen Elementen und allerlei literarischen Anspielungen und Nonsens nicht geizt. Die deutsche Übersetzung übrigens ist so wunderbar gelungen, dass ihr das Übersetztsein nirgendwo anzumerken ist.
Tatjana Tolstaja: „Kys“. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Rowohlt Berlin, Berlin 2003, 352 S., 22,90 €